2020 in Filmen und Büchern

Aus der Kategorie «Listen, die niemand braucht» poste ich hier – Letterboxd und goodreads sei dank – die Filme und Bücher, die ich im vergangenen Jahr gesehen bzw. gelesen habe.

Filme

Folgende Filme habe ich vergangenes Jahr zum ersten Mal gesehen – davon einige sogar im Kino! Serien sind nicht aufgeführt.

The Adventures of Buckaroo Banzai Across the 8th Dimension

Ein sehr schräger Film Buckaroo Banzai

The 40-Year-Old Version. Radha Blank. US 2020.
1917. Sam Mendes. US/GB 2019 (siehe dazu auch meinen Artikel «Erzählen ohne Unterbruch»).
8:46. Dave Chappelle. US 2020.
À l’abordage!. Guillaume Brac. FR 2020.
À la folie … pas du tout. Lætitia Colombani. FR 2002.
About Endlessness. Roy Andersson. SE/DE/NO 2019.
The Adventures of Buckaroo Banzai Across the 8th Dimension. W. D. Richter. US 1984.
Airplane!. Jim Abrahams, David Zucker und Jerry Zucker. US 1980.
An American Pickle. Brandon Trost. US 2020.
Angel Heart. Alan Parker. US 1987.
Der Ausdruck der Hände. Harun Farocki. DE 1997.
Baghdad in My Shadow. Samir. CH/DE/GB/IQ 2019.
The Battle of San Pietro. John Huston. US 1945.
Big. Penny Marshall. US 1988,
Black Hawk Down. Ridley Scott. US/GB 2001.
Le Bonheur. Agnès Varda. FR 1965.
Bruno Manser – Die Stimme des Regenwaldes. Niklaus Hilber. CH/AT 2019.
Calamity, une enfance de Martha Jane Cannary. Rémi Chayé. FR/DK 2020.
Chris the Swiss. Anja Kofmel. CH 2018.
Crazy, Stupid, Love.. Glenn Ficarra und John Requa. US 2011.
Dolittle. Stephen Gaghan. US 2020.
Dont Look Back. D. A. Pennebaker. US 1967.
Double Trouble. E.B. Clucher. IT 1984.
A Fistful of Dollars. Sergio Leone. IT/ES/DE 1964.
Harry Potter and the Philosopher’s Stone. Chris Columbus. US/GB 2001.
The Host. Bong Joon-ho. SK 2006.
The I Inside. Roland Suso Richter. GB/US 2004.
I’m Thinking of Ending Things. Charlie Kaufman. US 2020.
In Bruges. Martin McDonagh. GB/US 2008.
The Irishman. Martin Scorsese. US 2019.
Jadgzeit. Sabine Boss. CH 2020.
Krabat. Marco Kreuzpaintner. DE 2008.
Kubrick by Kubrick. Gregory Monro. FR 2020.
Little Women. Greta Gerwig. US 2019.
Lust for Life. Vincente Minnelli. US 1956.

Lust for Life

Farbig: Lust for Life

Magnificent Obsession. Douglas Sirk. US 1954.
Mank. David Fincher. US 2020 (siehe dazu meine Rezension).
The Man Who Shot Liberty Valance. John Ford. US 1962.
Mare. Andrea Staka. CH/HR 2020.
Das Millionenspiel. Tom Toelle. De 1970.
Moskau einfach!. Micha Lewinsky. CH 2020.
Oldboy. Park Chan-wook. SK 2003.
On the Rocks. Sofia Coppola. US 2020.
Onward. Dan Scanlon. US 2020.
Out of the Present. Andrei Ujică. DE 1997.
Platzspitzbaby. Pierre Monnard. CH 2020.
Portrait de la jeune fille en feu. Céline Sciamma. FR 2019.
Primary. Robert Drew. US 1960.
Quello che non sai di me. Rolando Colla. CH/IT/CZ 2019 .
Les raquetteurs. Michel Brault und Gilles Groulx. CA 1958.
Rebecca. Ben Wheatley. GB 2020.
Red Road. Andrea Arnold. GBB/DK 2006.
The Remains of the Day. James Ivory. GB/US 1993.
La Rivière du hibo. Robert Enrico. FR 1962.
Schwesterlein. Stéphanie Chuat und Véronique Reymond. CH 2020.
Die Schöpfer der Einkaufswelten. Harun Farocki. DE 2001.

«Shane» und «The Searchers»


Zwei eklatante Bildungslücken gestopft!

The Searchers. John Ford. US 1956.
Sekuritas. Carmen Stadler. CH 2019.
Shane. George Stevens. US 1953.
Sorry to Bother You. Boots Riley. US 2018.
Star Trek: The Motion Picture. Robert Wise. US 1979.
Star Wars: The Rise of Skywalker. J. J. Abrams. US 2019.
Surname Viet Given Name Nam. Surname Viet Given Name Nam. US 1989.
Tenet. Christopher Nolan. GB/US 2020.
Toy Story 4. Josh Cooley. US 2019.
Train to Busan. Yeon Sang-ho. SK 2016.
Vier Fäuste für ein Halleluja. Enzo Barboni. IT 1971.
Uncut Gems. Benny Safdie und Josh Safdie. US 2019.
Die fruchtbaren Jahre sind vorbei. Natascha Beller. CH 2019.
The Vast of Night. Andrew Patterson. US 2019.
Victoria. Sebastian Schipper. DE 2015.
Virgin Stripped Bare by Her Bachelors. Hong Sang-soo. SK 2000.
We Need to Talk About Kevin. Lynne Ramsay. GB/US 2011.
The Wicker Man. Robin Hardy. GB 1973.
You Don’t Nomi. Jeffrey McHale. US 2019.
You Should Have Left. David Koepp. US 2020.

Einen alle anderen überragenden Favoriten gab es für dieses Jahr nicht. Unter den – mehr oder weniger – Neuerscheinungen gehören aber zweifellos Schwesterlein, Sorry to Bother You und Portrait de la jeune fille en feu zu den Highlights. We Need to Talk About Kevin, der schon länger geplant war, ist ebenfalls ziemlich grossartig. Der zum Retter des Kinos hochstilisierte Tenet erwies sich dagegen als einer der schlechtesten Nolan-Filme überhaupt.

Bei den älteren Film habe ich für zwei Seminare grosse Bildungslücken beim Western und beim Dokumentarfilm gestopft, wobei sich wieder einmal zeigte, dass gewisse Filme ganz zurecht als Klassiker gelten.

Folgende Film habe ich 2020 zum wiederholten Mal gesehen:

«Die Abenteuer des Prinzen Achmed»

Ein Wunder von einem Film: Die Abenteuer des Prinzen Achmed

Die Abenteuer des Prinzen Achmed. Lotte Reiniger. DE 1926.
Ace in the Hole. Billy Wilder. US 1951.
Aliens. Aliens. US/GB 1986.
The Babadook. Jennifer Kent. AU 2014.
Back to the Future. Robert Zemeckis. US 1985.
Chronique d’un été. Jean Rouch und Edgar Morin. FR 1961.
The Crazies. George A. Romero. US 1973.
The Curious Case of Benjamin Button. David Fincher. US 2008.
E.T. the Extra-Terrestrial. Steven Spielberg. US 1982.
Fight Club. David Fincher. US 1999.
Il grande silenzio. Sergio Corbucci. IT/FR 1968.
Der Hexer. Alfred Vohrer. DE 1964.
Ice Age. Chris Wedge. US 2002.
In the Mood for Love. Wong Kar-wai. HK/CN 2000.
Inception. Christopher Nolan. US/GB 2010.
Jurassic Park. Steven Spielberg. US 1993.
Mary Poppins. Robert Stevenson. US 1964.
Memento. Christopher Nolan. US 2000.
Minority Report. Steven Spielberg. US 2002.
Monty Python and the Holy Grail. Terry Gilliam und Terry Jones. GB 1975.
Predestination. The Spierig Brothers. AU 2014.
The Prestige. Christopher Nolan. GB/US 2006.
Psycho. Alfred Hitchcock. US 1960.
Rashomon. Akira Kurosawa. JP 1950.
Ratatouille. Brad Bird. US 2007.
Rope. Alfred Hitchcock. US 1948.
The Shining. Stanley Kubrick. US/GB 1980.
The Spanish Prisoner. David Mamet. US 1997.
Stagecoach. John Ford. US 1939.
Triangle. Christopher Smith. GB/AU 2009.
Twelve Monkeys. Terry Gilliam. US 1995.
Unforgiven. Clint Eastwood. US 1992.
The Wild Bunch. Sam Peckinpah. US 1969.
The Wrong Trousers. Nick Park. GB 1993.
Yella. Christian Petzold. DE 2007.

Bücher

Ich halte nicht viel von Vorsätzen fürs neue Jahr, aber für 2020 hatte ich mir vorgenommen, mehr zu lesen, was auch halbwegs geklappt hat. Es sind zwar nicht unendlich viele Titel, aber angesichts der Tatsache, dass ich auch Mammutwerke wie Kim Stanley Robinsons Three-Californias-Trilogie und Dietmar Daths theoretiscer Wälzer Niegeschichte (zu dem im Laufe dieses Jahres noch eine Rezension folgen sollte) geschafft habe, ist die Bilanz gar nicht so schlecht.

In der Sparte erzählende Literatur habe ich folgende Titel gelesen (inklusive abendlicher Vorlesestoff für den Nachwuchs):

Jane Austen: Pride and Prejudice.
Albert Camus: Der Fremde.
Albert Camus: Die Pest.
Raymond Chandler: Farewell, My Lovely.
Dietmar Dath: Niegeschichte: Science Fiction als Kunst- und Denkmaschine.
Per Olov Enquist: Der fünfte Winter des Magnetiseurs.
Hans Fallada: Kleiner Mann, Was Nun?.
Kurt Held: Die rote Zora und ihre Bande.
E.T.A. Hoffmann: Die Elixiere des Teufels.
Kazuo Ishiguro: The Remains of the Day.
Ben Lerner: 10:04.
Francesca Melandri: Alle, außer mir.
E.Y. Meyer: In Trubschachen: Roman Aus Dem Emmental.
Otfried Preußler: Krabat.
Kim Stanley Robinson: The Ministry for the Future.
Kim Stanley Robinson: Three Californias: The Wild Shore, the Gold Coast, and Pacific Edge.
Werner Rohner: Was möglich ist.
W.G. Sebald: Die Ringe des Saturn.
Karlheinz Steinmüller: Andymon.
Robert Louis Stevenson: Die Schatzinsel.
Ulrike Ulrich: Während wir feiern.
Jules Verne: Reise um die Erde in 80 Tagen.

Anders als beim Film stechen in der Sparte Literatur mit The Ministry for the Future und 10:04 für mich zwei Werke heraus. Die beiden Bücher sind sehr unterschiedlich – Nahzeit-SF im Falle Robinsons, metafiktionale Nabelschau bei Lerner –, aber sie haben gemeinsam, dass es sich in beiden Fällen nur noch begrenzt um traditionelle erzählende Literatur handelt.

The Ministry for the Future

«The Ministry for the Future»

Robinson hat schon vor einigen Jahren angedeutet, dass er das Ende seiner Laufbahn als Schriftsteller nahen sieht. Ich weiss nicht, ob The Ministry for the Future sein letzter Roman ist (derzeit arbeitet er an einem Sachbuch über die Sierra Nevada), aber es wäre ein würdiger Abschluss, denn in ihm kommen alle Themen zusammen, die den Autor seit Jahren beschäftigen: Klimawandel, Utopie, das Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Wirtschaft, und die Frage, inwiefern gesellschaftliche Umwälzungen auf die Handlungen einzelner zurückgehen. Obwohl auch in The Ministry for the Future Robinsons typischer Optimismus spürbar wird, ist es wohl sein grimmigster Roman überhaupt. – Lösungen sind möglich, aber sie haben ihren Preis.

Stilistisch ist The Ministry for the Future zweifellos Robinsons radikalster Roman. Der Autor war schon immer ein entschiedener Verfechter des Infodumps als Teil einer spezifischen SF-Ästhetik, in diesem Buch treibt er dieses Prinzip nun auf die Spitze. Zwar gibt es einen zentralen Plot, dieser entpuppt sich bei genauerer Betrachtung aber als relativ handlungsarm (und ist gerade in seinen «Action-Passagen» auch eher schwach). Daneben gibt es zahlreiche Kapitel, in denen einfach Dinge referiert werden. Zum Beispiel wird die Funktion von Zentralbanken erklärt, oder ein Kohlestoff-Atom erzählt «aus seinem Leben».

Das Ergebnis ist eine seltsame Mischung aus Montageroman, Thriller und Sachbuch. Eigentlich ein unmögliches Ding, und ich bin nicht sicher, ob es an Robinsons erzählerischer Meisterschaft oder schlicht daran liegt, dass ich ohne fast alles, was er schreibt, grossartig finde (oder dass zentrale Teile des Romans in Zürich spielen), aber auf jeden Fall hat er es mal wieder geschafft, mich total in  den Bann zu schlagen. Was soll man angesichts eines solchen Endes auch noch gross sagen?

we will keep going, we will keep going, because there is no such thing as fate. Because we never really come to the end.

10:04

Von Ben Lerner habe ich früher bereits Leaving the Atocha Station und The Topeca School gelesen, die mir beide sehr gefallen haben. 10:04 war dann aber eines der Leseerlebnisse, bei denen ich regelmässig vor Begeisterung laut aufgejubelt habe. Ich verzichte hier auf den Versuch, das Buch adäquat beschreiben, und belasse es bei der wenig aussagekräftigen Bemerkung, dass es zugleich eine selbstverliebte Nabelschau und eine sehr kluge Meditation über Kunst, die Zeit und das Leben ist. Und Back to the Future spielt darin eine zentrale Rolle!

Sachbücher

Zwar lese ich im wissenschaftlichen Alltag viel Fachliteratur, es gehört aber zu den Besonderheiten des akademischen Lebens, dass man nur die wenigsten Bücher vollständig von vorne nach hinten liesst. Folgende nichtliterarische Werke habe ich mehr oder weniger vollständig gelesen (meist, aber nicht immer im Zusammenhang mit konkreten Projekten bzw. Artikeln):

Rutger Bregman: Humankind: A Hopeful History.
Barbara Brodman und James E. Doan (Hg.): Utopia and Dystopia in the Age of Trump: Images from Literature and Visual Arts.
Michael Butter: »Nichts ist, wie es scheint«: Über Verschwörungstheorien.
Dietmar Dath: Niegeschichte: Science Fiction als Kunst- und Denkmaschine.
Albert Hofmann: LSD – mein Sorgenkind.
Stanisław Lem: Phantastik und Futurologie I+II.
Farah Mendlesohn: The Pleasant Profession of Robert A. Heinlein.
Uwe Timm: Der Verrückte in den Dünen: Über Utopie und Literatur.
Matthias Uhlmann: Die Filmzensur im Kanton Zürich. Geschichte, Praxis, Entscheide (siehe dazu meine Rezension).
Filippo Ulivieri und Simone Odino: 2001 between Kubrick and Clarke: The Genesis, Making and Authorship of a Masterpiece.

«Niegeschichte»

Ein dickes Ding: Dietmar Daths theoretisches Opus magnum

Soeben erschienen: Zwei Publikationen zu Verschwörungstheorien

Wie’s der Zufall will, sind heute gleich zwei Publikationen von bzw. mit mir erschienen, die sich mit dem Zusammenhang von Verschwörungstheorien und phantastischen Erzählformen beschäftigen.

«Im Innern der Weltmaschinerie»

Dieser Artikel ist im von Vera Podskalsky und Deborah Wolf herausgegebenen Beiheft 25 zum Thema «Prekäre Fakten, umstrittene Fiktionen. Fake News, Verschwörungstheorien und ihre kulturelle Aushandlung» der Zeitschrift Philologie im Netz erschienen. Das Heft geht auf die Tagung Mit Fiktionen über Fakten streiten zurück, die vor fast genau einem Jahr an der Universität Freiburg stattfand und an der ich einen Vortrag hielt (der online verfügbar ist). Ich behandle darin die Nähe von Verschwörungstheorien und Utopien, mein zentrales Beispiel ist der Online-Film Zeitgeist: Addendum.

Dieser Artikel entspricht weitgehend den entsprechenden Passagen in meinem Buch Bilder einer besseren Welt.

Ein Ausschnitt aus Dylan Louis Monroes Deep State Mapping Project

Alles hängt mit allem zusammen

ZFF-Forum «Verschwörungstheorien als narratives Phänomen»

Seit die Zeitschrift für Fantastikforschung online als Open-Access-Publikation erscheint, gibt es die Rubrik »Forum«, in der sich jeweils mehrere AutorInnen in kurzen Beiträgen zu einem Thema äussern. Die Idee dahinter ist, dass wir damit schneller auf aktuelle Themen reagieren können, als dies bei wissenschaftlichen Publikationen normalerweise der Fall ist. Wissenschaftliche Artikel haben ja meist eine lange Entstehungszeit – sie müssen durchs Peer Review bzw. werden von den HerausgeberInnen bearbeitet, gehen dann wieder zur Revision zurück etc. So kann es schnell mal zwei, drei Jahre dauern, bis ein Artikel tatsächlich erscheint. Mit dem Forum wollen wir eine Plattform bieten, auf der auch Schnellschüsse möglich sind. Die Artikel sollen kurz und knackig und gerne auch mal polemisch sein.

Wir hatten in der Vergangenheit schon Foren zu Blade Runner und Game of Thrones. Mit beiden bin ich sehr zufrieden, doch ich glaube, bei keinem konnten wir unsere ursprüngliche Idee so gut umsetzen wie im neuen Forum zu Verschwörungstheorien als narrativem Phänomen.

Verschwörungstheorien sind dank Corona, QAnon und Donald Trump in den Medien so präsent wie schon lange nicht mehr. In den Beiträgen im ZFF-Forum geht es allerdings um einen Aspekt, der unserer Ansicht nach meist zu kurz kommt: Die Tatsache, dass es sich bei Verschwörungstheorien um narrative Formen handelt. Ihr Erfolg – so unsere Arbeitsthese – gründet nicht zuletzt in der Tatsache, dass sie sich erzählen lassen.

Das Forum versammelt unterschiedliche Perspektiven und Fachrichtungen. Nach einer Einleitung von mir melden sich folgende Autorinnen und Autoren zu Wort:

  • Andreas Anton (Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene): «Willkommen in der Paranoia-Gesellschaft! Verschwörungstheorien in Zeiten von Corona»
  • Solvejg Nitzke (Technische Universität Dresden):  «Über das Querdenken. Der epistemische Widerstand der Corona-Proteste»
  • Johannes Pause (Universität Luxemburg): «Das Subjekt der Paranoia»
  • Carolin Amlinger (Universtität Basel): «(Nicht) Wissen wollen. Über Science Fiction und Verschwörungserzählungen»

Viel Spass bei der Lektüre!

Spiegel, Simon: «Im Innern der Weltmaschinerie. Zur Nähe von Utopie und Verschwörungstheorie am Beispiel des Online-Films Zeitgeist: Addendum». In: Philologie im Netz. Beiheft 25: Prekäre Fakten, umstrittene Fiktionen, 2020, 230–250, web.fu-berlin.de/phin/beiheft25/b25t10.pdf.
«Forum Verschwörungstheorien als narratives Phänomen». In: Zeitschrift für Fantastikforschung 8.1, 2020. DOI: 10.16995/zff.3415.

Erschienen: Rezension von Matthias Uhlmanns «Die Filmzensur im Kanton Zürich».

Auf H-Soz-Kult ist soeben meine Rezension von Matthias Uhlmanns gewichtiger filmhistorischer Dissertation Die Filmzensur im Kanton Zürich. Geschichte, Praxis, Entscheide erschienen.

Zur vollständigen Rezension.

Uhlmann, Matthias: Die Filmzensur im Kanton Zürich. Geschichte, Praxis, Entscheide. Zürich: Verlag Legissima 2019.

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Erschienen: «Utopia and Reality»


BuchDer von Andrea Reiter, Marcy Goldberg und meiner Wenigkeit herausgegebene Sammelband Utopia and Reality ist dieser Tage bei University of Wales Press erschienen. Das Buch geht die gleichnamige Tagung zurück, die wir im September 2016 an der Universität Zürich organisiert haben, und versammelt Beiträge von ForscherInnen aus den Bereichen Filmwissenschaft und Utopieforschung.

Der Band ist unseres Wissens in seiner Ausrichtung einzigartig und eignet sich ideal als Begleitband zu meinem Buch.

Alles Weitere dazu hier.

Errol Morris: The Ashtray


The AshrayErrol Morris dürfte jedem, der sich mit Dokumentarfilm beschäftigt, ein Begriff sein. Sein 1988 erschienener Film The Thin Blue Line kann wohl ohne Übertreibung als Meilenstein der Gattung bezeichnet werden, der wesentlich dazu beigetragen hat, das Re-Enactment als ernstzunehmendes Stilmittel zu rehabilitieren. Morris beschäftigt sich in seinen Filmen in der Regel mit ur-amerikanischen Themen. Sein neustes Buch ist deshalb eine ziemliche Überraschung: In The Ashtray (Or the Man Who Denied Reality) zieht Morris gegen seinen früheren Professor Thomas Kuhn zu Felde.1

Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen

Wenn ich unter allen Büchern, die ich gelesen habe, das auswählen müsste, das mein (wissenschaftliches) Denken am nachhaltigsten geprägt hat, würde meine Wahl zweifellos auf Kuhns Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen fallen. Kuhns Buch ist ein Klassiker der Wissenschaftstheorie und taucht regelmässig in Listen der einflussreichsten Bücher des 20. Jahrhunderts auf. – Worum geht es? Die Geschichte der (Natur-)Wissenschaft wird oft als Erfolgsgeschichte dargestellt, als eine sukzessive Anhäufung von Wissen und damit einhergehend der stetigen Verfeinerung wissenschaftlicher Modelle. Mit dieser Vorstellung räumt Kuhn auf. In seiner Darstellung ist Wissenschaft keine allmähliche Annäherung an eine objektive Wahrheit, kein linearer Prozess, der auf ein Ziel hin zuläuft, sondern eine bis zu einem gewissen Grad zufällige Angelegenheit, die von Krisen und Umbrüchen – eben Revolutionen – geprägt ist.

Kuhn unterscheidet zwischen Revolutionen und Phasen normaler Wissenschaft. Letztere sind dadurch gekennzeichnet, dass ein Set von allgemein akzeptierten Verfahren, Erkenntnissen und Zielen existiert, derer sich Wissenschaftlicher bedienen bzw. die sie anstreben. Man weiss, was man erreichen will, auf welchen Wege man dies zu tun hat und anhand welcher Kriterien die Ergebnisse bewertet werden. Diese Gesamtheit bezeichnet Kuhn als Paradigma. In Phasen normaler Wissenschaft herrscht Gewissheit, dass sich Probleme innerhalb des bestehenden Paradigmas lösen lassen. Wissenschaftliche Arbeit besteht nach Kuhn deshalb normalerweise vor allem aus Rätsel-Lösen („puzzle solving“) innerhalb des etablierten Paradigmas, also gewissermassen dem Auspolstern des bestehenden Gerüsts, und nicht aus dem Entwickeln umstürzender Thesen.

Kuhns Buch in der klassischen Suhrkamp-Ausgabe

Früher oder später gelangt das Paradigma aber an seine Grenzen; es treten Anomalien auf. Ist die Zahl der Anomalien zu gross, gerät das Paradigma in eine Krise und eine Phase revolutionärer Wissenschaft setzt ein, in deren Verlauf neue Modelle entwickelt werden, welche die Anomalien zwar erklären können, dem bestehenden Paradigma aber fundamental widersprechen. Ab einem gewissen Punkt etabliert sich ein neues Paradigma, das von nun an die Basis normaler Wissenschaft darstellt.

Ein entscheidender – und umstrittener – Punkt in diesem Modell ist, dass der Übergang vom alten zum neuen Paradigma kein geordneter rationaler Prozess ist. Entscheidend ist nach Kuhn nicht, dass das neue Paradigma objektiv besser ist bzw. dass die Vertreter des neuen Ansatzes ihre Kollegen mit Argumenten überzeugen können. Letzteres sei oft gar nicht möglich. Denn zum einen kann das neue Paradigma zu Beginn zwar mit den – oder zumindest manchen – Anomalien umgehen, es ist aber zwangsläufig nicht so umfassend wie das alte, kann also (noch) nicht allen bis dahin bekannten Phänomenen gerecht werden.

Die Umwertung aller Werte

Fast noch wichtiger ist, dass eine Revolution nach Kuhn zu einer Umwälzung der bestehenden Nomenklatur und der angelegten Massstäbe führt; Begriffe erhalten eine neue Bedeutung, die Rahmenbedingungen und Beurteilungskriterien verändern sich grundlegend. Das alte und das neue Paradigma sind in letzter Konsequenz nicht vergleichbar, stellen unterschiedliche Welten dar, sie sind in Kuhns Worten inkommensurabel. Die Anhänger des alten Paradigmas können das neue schlechterdings nicht verstehen, da sie in einer anderen Welt leben.

Kuhns Buch war ungeheuer einflussreich, wurde und wird aber auch kritisiert. Dazu gleich mehr. Zuerst aber etwas zu meiner Begegnung mit Struktur. Ich las das Buch kurz nach Beendigung meines Grundstudiums, und die Lektüre war für mich ungemein erhellend. Denn was tat ich in meinem Studium denn anderes, als gewisse Verfahren und Bewertungsmassstäbe einzuüben? Einzig und allein deshalb, weil sie aus dem Mund meiner Dozenten kamen, also dem etablierten Paradigma entsprachen. Und waren meine Seminararbeiten, in denen ich kleinste Detailfragen anhand dieser eingeübten Verfahren zu klären versuchte, nicht just das, was Kuhn als normale Wissenschaft bezeichnet?

Zugleich erschien mir Kuhns Buch auch als Warnung vor Überheblichkeit und Selbstzufriedenheit. Die aristotelische Physik war nicht einfach Unsinn, sondern sehr wohl imstande, gewisse Phänomene zu erklären. Ebenso das ptolemäische Weltbild. Mit anderen Worten: Weder waren Menschen früherer Epochen, die glaubten, dass die Sonne um die Erde kreist, naive Idioten, noch können wir heute sicher sein, dass nicht auch unser Verständnis der Welt dereinst durch ein komplett anderes ersetzt wird.

Ptolemaeus, Claudius, Cosmographia Weltkarten, Faksimile aus dem Kodex Lat. V F. 32

Stark oder schwach?

Im Vorwort seines Buchs erwähnt Kuhn, wie wichtig ein Jahr am Center for Advanced Studies in the Behavioral Sciences in Stanford war für ihn. Hier traf der ausgebildete Physiker Kuhn auf Sozialwissenschaftler und war überrascht, dass in diesen Disziplinen selbst bei grundlegenden methodologischen Fragen keine Einigkeit herrschte. Diese Erfahrung war wesentlich für die Formulierung des Paradigma-Begriffs.

Für einen Geisteswissenschaftler ist das, was Kuhn hier beschreibt, Alltag. Die Vorstellung, dass ein Phänomen mit ganz unterschiedlichen Begriffen und Herangehensweisen adäquat erfasst werden kann, ist uns nicht fremd. Vielmehr sind wir konkurrierende, teilweise fundamental gegensätzliche Ansätze – eine Pluralität von Paradigmen – gewohnt. Das mag auch ein Grund sein, weshalb Kuhns Buch in den Geistes- und Sozialwissenschaften so populär wurde – es entspricht unserer Erfahrung.

In meinen Augen hat Kuhns Buch einen grossen Schwachpunkt: Es ist nicht klar, ob es sich bei seinem Grundgedanken um eine starke oder eine schwache These handelt. Kann von einer Revolution nur dann gesprochen werden, wenn tatsächlich völlig neue Verfahren und Massstäbe eingeführt werden, oder geht es auch um kleinere Verschiebungen? Kuhn ist diesbezüglich sehr schwammig, und beide Interpretationen – die schwache wie die starke – haben ihre Probleme. Wie verschiedene Kritiker festgestellt haben, gibt es letztlich nur sehr wenige Beispiele, bei denen der Paradigmenwechsel so vollständig ist wie von Kuhn beschrieben. Kuhn arbeitet in Struktur mit drei Hauptbeispielen: die Wende vom geozentrischen hin zum heliozentrischen Weltbild, die Ablösung der Phlogistontheorie durch Lavoisiers Sauerstoffchemie sowie Einsteins Relativitätstheorie, die die klassische newtonsche Physik ablöste. In den ersten beiden Fällen lässt sich argumentieren, dass mit den neuen Paradigmen überhaupt erst die moderne Wissenschaft entsteht. Der Wechsel von newtonscher zu einsteinischer Physik wiederum geht zwar mit einem neuen Verständnis der Welt einher, völlig inkommensurabel sind die beiden Modelle aber nicht. Physik, wie sie heute in der Schule gelehrt wird, folgt noch immer in weiten Teilen Newton, ohne dass sich daraus fundamentale Widersprüche mit der Relativitätstheorie ergeben würden.

Versteht man Kuhns Ansatz als starke These, stellen wissenschaftliche Revolutionen seltene Ausnahmen dar, die sich zudem fast ausschliesslich in vormodernen Zeiten beobachten lassen. Weder die Beschreibung der DNA durch Watson und Crick und das daraufhin entstandene Feld der modernen Genetik noch die Neuerungen auf dem Gebiet der Informatik wären dann wissenschaftliche Revolutionen. Damit drängt sich die Frage auf, ob Kuhns Paradigmen-Modell für moderne Forschung überhaupt noch relevant ist oder nicht eine vergangene Phase beschreibt.

Legt man Kuhn dagegen weniger eng aus und nimmt seine mitunter kategorischen Aussagen eher als rhetorische Zuspitzungen, erscheinen wissenschaftliche Revolutionen schnell als nicht sonderlich spektakuläre Verschiebungen des wissenschaftlichen Konsens, die nicht mehr allzu weit von einem traditionellen Verständnis sukzessiven Fortschritts entfernt sind.

Egal, wie man Kuhn versteht, scheint mir die Einsicht elementar, dass sich eine wissenschaftliche Disziplin immer bis zu einem gewissen Grad selbst vorgibt, was überhaupt wie erforscht werden kann – und was nicht.

Was hat das aber alles mit Errol Morris zu tun?

Der Aschenbecher

Morris studierte in den frühen 1970er-Jahren bei Kuhn, wurde von diesem nach einer hitzigen Debatte über eine Hausarbeit, die Kuhns Missfallen erregte, aber zuerst mit einem Aschenbecher beworfen – daher der Titel des Buchs – und dann aus der Universität befördert.

Morris bezeichnet den Rauswurf heute als Glücksfall, doch wenn The Asthray etwas deutlich macht, dann, dass der Zusammenstoss mit Kuhn tiefe Wunden bei ihm hinterlassen hat. Der Regisseur macht aus seinem Herzen denn auch keine Mördergrube und schreibt explizit: »Many may see this book as a vendetta. Indeed it is.«

Thomas Kuhn

Obwohl Kuhn ein obsessiver Kettenraucher war, konnte ich kein Bild finden, auf dem er raucht

Kuhn war nach allgemeiner Einschätzung kein einfacher Zeitgenosse, doch Morris lässt wirklich kein gutes Haar an seinem früheren Professor. Kuhn erscheint in The Ashtray unter anderem als Dogmatiker, als intolerant, als Diktator und als gefährlicher Scharlatan.

Für Morris hatte Kuhn nicht bloss einen miesen Charakter, er ist in seinen Augen Vertreter einer schädlichen Ideologie, ein Prediger eines totalen Relativismus, der die Existenz der Realität leugnet – siehe den Untertitel von The Ashtray –, ohne dabei selbst an diese Position zu glauben.

What’s the difference between being convinced by Einstein that special relativity is true and E = mc2 and being convinced by Hitler that the Protocols of the Elders of Zion is true and Jews should be eradicated from the face of the earth (91).

Dieses Zitat fasst Morris’ Bedenken gut zusammen. Seiner Auffassung nach sind für Kuhn alle Aussagen gleichwertig, gibt es keine Möglichkeit, zwischen wahr und falsch zu unterscheiden.

Die angeführte Stelle illustriert auch, wo Morris falsch liegt. Man kann durchaus geteilter Meinung sein, ob es Inkommensurabilität zumindest in ihrer starken Form tatsächlich gibt. Was Morris in seinen zahlreichen Attacken aber weitgehend ausblendet, ist, dass Kuhn nicht irgendwelche Behauptungen untersucht, sondern Modelle der (wissenschaftlichen) Welterklärung. Die Relativitätstheorie ist ein erklärungsmächtiges Modell, das empirisch überprüfbare Aussagen ermöglicht, und damit etwas grundlegend anderes als Hitlers Antisemitismus.2

Errol Morris

Scheint trotz Rauswurf aus Princeton ganz zufrieden: Errol Morris

Nach Morris streitet Kuhn rundweg ab, dass eine Realität überhaupt existiert.3 Ich habe Kuhn nie so verstanden. Skeptizismus ja, kompletter Relativismus nein.4 Schon alleine deshalb nicht, weil ein Paradimga nicht einfach eine Geschichte ist, die sich jemand ausdenkt, sondern ein Modell, das in der Lage ist, gewisse empirische Phänomene zu erklären.

Die Suche nach der Wahrheit

In The Thin Blue Line stellt Morris den angeblichen Tathergang eines Mordes nach und weist auf diese Weise nach, dass sich das Verbrechen unmöglich so abgespielt haben kann, wie von den verschiedenen Zeugen behauptet. In der Folge wurde der Prozess neu aufgerollt und der unschuldig zum Tode verurteilte Randall Dale Adams frei gesprochen. Fragen von Wahrheit und Lüge stehen im Zentrum von Morris’ Schaffen.

The Thin Blue Line

The Thin Blue Line

Es ist somit nicht völlig überraschend, dass The Ashtray immer wieder zur Behauptung zurückkehrt, dass es sehr wohl möglich sei – dass es möglich sein muss –, zwischen „wahr“ und „falsch“ zu unterscheiden. Morris ist zweifellos nicht dumm und hat sich offensichtlich intensiv mit dem Thema beschäftigt. Umso seltsamer wirkt dieser naive Realismus. Denn eine abschliessende Bewertung, ob eine Aussage zur Realität „wahr“ oder „falsch“ ist, würde einen objektiven Standpunkt ausserhalb der Welt bedingen. Dass wir einen solchen nicht einnehmen können, gehört aber spätestens seit Kant zum erkenntnistheoretischen Einmaleins (was zu einem früheren Blogeintrag passt).5

Morris’ Buch ist keine typische geisteswissenschaftliche Monografie, sondern ein grossformatiges, sorgfältig gestaltetes Hardcover mit zahlreichen Abbildungen. Der Autor folgt nicht strikt einer Argumentationslinie, sondern begibt sich immer wieder Nebenstränge – von Don Quijote über Jorge Luis Borges bis zur Wahrheit über Hippasos von Metapont. Ausserdem schiebt Morris regelmässig Interviews mit mehr oder weniger bekannten Experten ein.

Einige dieser Interviews sind sehr aufschlussreich. Mir ist nicht klar, inwieweit Morris selbst dies bewusst ist, aber Noam Chomsky beispielsweise scheint mir in dem kurzen Gespräch, das in The Ashtray enthalten ist, Kuhns Skeptizismus weitgehend zu stützen.

Fazit: Ein seltsames Buch, das sein Ziel weitgehend verfehlt. Kuhn mag als Mensch unausstehlich gewesen sein, die in Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen formulierte Einsicht scheint mir aber bei allen Einschränkungen grundlegend. Im Grunde sollte sich jeder, der je eine Universität betritt, mal mit diesen Fragen beschäftigen. Zugleich können wir aber froh sein, dass Kuhn Morris seinerzeit so schäbig behandelt hat. Andernfalls wäre dieser vielleicht nie Regisseur geworden.

Zitierte Werke

Feyerabend, Paul K.: Wider den Methodenzwang.Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1999.

Fleck, Ludwik: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Suhrkamp: Frankfurt a.M. 1980 (11935).

Morris, Errol: The Ashtray. (Or the Man Who Denied Reality).The University of Chicago Press: Chicago/London 2018.

  1. Das Buch geht auf eine Reihe von Blog-Einträgen zurück, die Morris ursprünglich für die New York Times verfasst hat. Siehe hier, hier, hier, hier und hier.[]
  2. Relativ früh erwähnt Morris auch Trumps Behauptung, an seiner Amtseinsetzung seien mehr Menschen anwesend gewesen als bei jener Obamas. Für Morris ein Beispiel für die Gefährlichkeit von Kuhns Ansatz, denn dieser erlaube es nicht, diese Falschaussage als solche zu entlarven. Hier liegt Morris aber eindeutig falsch. Eine offensichtlich unwahre Behauptung wie jene Trumps ist keine Aussage auf der Basis eines wissenschatflichen Modells, sondern schlicht eine Lüge. Es gibt kein Paradigma, innerhalb dessen diese Behauptung wahr wäre (Trumps egomane Sicht auf die Welt ist kein Paradigma).[]
  3. Morris wärmt in diesem Zusammenhang diverse Klischees über die angebliche zersetzende Wirkung postmoderner Ansätze auf; folgt man dieser Argumentation hat die postmoderne Philosophie Trump, Brexit und Klimaleugner zu verantworten.[]
  4. Morris’ Darstellung von Kuhns Ansatz entspricht eher dem, was Paul Feyerabend in Wider den Methodenzwang beschreibt. Aber Feyerabend taucht bei Morris ebensowenig auf wie Ludwik Fleck, der in seinem 1935 erschienenen Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache viele von Kuhns Einsichten vorwegnahm.[]
  5. Morris führt den Philosophen Saul Kripke als Kronzeugen gegen Kuhn an. Ich bin in Philosophie zu wenig bewandert, als dass ich ausführlich auf diese Passagen eingehen könnte, ich hatte beim Lesen von Morris’ Ausführungen aber stets den Eindruck, dass Kripkes Überlegungen auf einer ganz anderen Ebene angesiedelt sind als jene Kuhns und sich die beiden Ansätze nur begrenzt vergleichen lassen. Wohl ein Fall von Inkommensurabilität. Siehe dazu auch David Kordahls Rezension.[]

Erschienen

Es ist soweit! Das Buch ist da!

Noch ist es bei Amazon und Co. noch nicht als lieferbar geführt, aber das dürfte sich bald ändern. Für alle, die nicht warten wollen oder ohnehin zu geizig sind, um sich das Buch zu kaufen, gibt es die Open-Access-Version bereits umsonst zum Download.

Alles Details zum Buch gibt es hier.

Science-Fiction-Kultfilme

Erschienen in tv diskurs 3/2018.

Kultfilm ist einer jener Begriffe, auf die die Medien oft reflexartig zurückgreifen, der sich bei genauerer Betrachtung aber nur schwer fassen lassen. Denn mit dem Label «Kult» wird alles Mögliche versehen. Blockbuster, die ein Millionenpublikum anziehen, aber auch obskure Produktionen, die nur innerhalb einer Subkultur hochgehalten werden, herausragende Meisterwerke mit nachhaltigem Einfluss ebenso wie hanebüchener Schrott, der gerade wegen seiner offensichtlichen Defizite geliebt wird. Was die verschiedenen Ausprägungen des Phänomens verbindet, ist, dass das Attribut «Kult» nicht die inhärente Qualität eines Werkes beschreibt, sondern die Art und Weise, wie ein bestimmtes Publikum auf dieses reagiert. Wie immer man Kult auch fasst, es ist letztlich immer eine Kategorie der Rezeption.

CoverDass sich ein Band zum Thema «Kultfilme» auf Science Fiction (SF) konzentriert, leuchtet ein, denn kaum ein anderes Genre präsentiert sich als derart kultaffin. Die SF-Fangemeinde kann auf eine lange Geschichte zurückblicken und differenziert sich mittlerweile in unzählige Untergruppen aus, die den verschiedensten kultischen Aktivitäten nachgehen. Fan Fiction, in der die Abenteuer eines Franchise weitergesponnen werden, gehört ebenso dazu wie das Cosplay genannte Verkleiden, Modellbau oder Filk-Musik, die mit SF-Motiven arbeitet.

Angesichts dieser reichhaltigen Möglichkeiten überrascht, dass der von Angela Fabris und Jörg Helbig herausgegebene Band, der auf eine Ringvorlesung an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt zurückgeht, Fanaktivitäten bestenfalls kurz streift, und die beiden SF-Kult-Franchise-Beispiele par excellence – Star Trek und Star Wars – mit keinem Wort erwähnt.

In ihrer Einleitung betonen die Herausgeber, dass sie den Begriff «Kultfilm» bewusst nicht genau definieren und neben der Publikumsreaktion auch andere Faktoren wie die künstlerische Qualität oder den Einfluss eines Films einbeziehen wollen. Dagegen wäre grundsätzlich nichts einzuwenden, ein Großteil der Beiträge hat zum Phänomen «Kult» aber schlicht nichts zu sagen und beschränkt sich auf traditionelle Analysen des jeweiligen Films.

Der einzige Artikel, der sich ausführlicher damit beschäftigt, wie und weshalb ein Film Kult wird, ist derjenige von Susanne Bach zu The Rocky Horror Picture Show (1975), einem Film, dessen Vorführungen regelmäßig zu eigentlichen Happenings werden, bei denen die Fans einem elaborierten Skript folgen, das von auf den Dialog abgestimmten Zwischenrufen bis zum Werfen von Reis während der Hochzeitsszene alles regelt. Bach kann anschaulich zeigen, warum die zahlreichen Verweise und die spielerische, selbstreflexive Qualität von The Rocky Horror Picture Show geradezu zu einer solchen Rezeption einladen.

The Rocky Horror Picture Show

The Rocky Horror Picture Show

Es scheint sinnvoller, das Buch nicht als Beitrag zum Thema «Kultfilme» zu lesen, sondern als Einführung in das Science-Fiction-Genre anhand ausgewählter Beispiele. Darauf deutet auch Arno Rußeggers einleitender Beitrag zu Fantastic Voyage (1966) hin, einem Film, der zwar durchaus Klassikerstatus beanspruchen kann, den aber kaum jemand als Kult bezeichnen dürfte. Rußegger geht entsprechend auch kaum auf allfällige Kultaspekte ein, sondern gibt eine Übersicht über Funktionsweisen filmischer SF.

Dass einer Auswahl von etwas über einem Dutzend Filmen aus einem halben Jahrhundert Filmgeschichte immer etwas Willkürliches anhaftet, lässt sich nicht vermeiden. Neben unvermeidbaren Meilensteinen wie 2001: A Space Odyssey (1968) und Blade Runner (1982) werden auch wenig bekannte Filme wie Peter Watkins The War Game (1965), die pseudo-dokumentarische Darstellung eines Atomangriffs auf Großbritannien, oder der italienische Cyberthriller Nirvana (1997) behandelt. Und mit Alejandro Jodorowskys gescheitertem Dune-Projekt widmet sich René Reinhold Schallegger sogar einem Film, der nie zustande kam.

The War Game

The War Game

Man könnte über diese Zusammenstellung lange diskutieren, wichtiger als die Auswahl der Filme ist aber die Qualität der Beiträge, und hier zeigt sich Science-Fiction-Kultfilme sehr uneben. Florian Mundhenkes Beitrag zu The War Game zeugt wie jener von Bach von Fachkenntnis, beide dürften auch für Laien gut verständlich sein. Das Gleiche gilt für Schalleggers Dune-Kapitel (warum Letzteres als einziges auf Englisch gehalten ist, wird aber nirgends erklärt. Ebenso, warum nur in Désirée Krieschs Matrix-Kapitel Screenshots abgedruckt sind). Dagegen ist Alice Pechriggls Artikel zu Total Recall (1990) theoretisch gnadenlos übermunitioniert und stellt selbst in der Materie bewanderte Leser auf eine harte Probe. Ina Paul-Horns Notizen zu 2001 – von einem ausgewachsenen Artikel kann man hier kaum sprechen – sind dagegen eher unterkomplex ausgefallen.

Obwohl einzelne Beiträge durchaus lesenswert sind, wird bis zum Schluss nie recht klar, an wen sich dieses Buch eigentlich richtet. SF-Interessierte, die mehr über das Phänomen «Kultfilm» erfahren möchten, kommen definitiv nicht auf ihre Kosten. Und für alle, die mit dem Genre bislang nichts am Hut hatten, dürfte es bessere Einführungen geben.

Fabris, Angela/Helbig, Jörg (Hg.): Science-Fiction-Kultfilme. Marburg: Schüren 2016.

«Blade Runner» ist zurück

Dieser schon etwas ältere Artikel erschien, bevor Blade Runner 2049 in die Kinos kam. Für Gedanken zum Film von Denis Villeneuve siehe diesen Artikel.

Viel wurde gemunkelt, immer neue Gerüchte machten die Runde: Sind Harrison Ford und Regisseur Ridley Scott wieder dabei? Wann beginnen die Dreharbeiten? Worum wird es gehen in Blade Runner 2049? Jetzt wird das cineastische Geheimnis des Jahres endlich gelüftet. Die gleichermassen hoffnungsvoll wie ängstlich erwartete Fortsetzung zu Blade Runner kommt ins Kino.

Im Trailer scheint fast alles beim Alten: Die wehmütige Musik von Vangelis, die gigantischen, von Rauch und Dampf durchzogenen Stadtfluchten, die bedeutungsschwangeren Sentenzen. Selbst Ford und Scott sind nach über dreissig Jahren wieder mit von der Partie. Letzterer allerdings nur als Produzent und Ersterer nicht als Hauptfigur. Diesen Part spielt nun Ryan Gosling, unterstützt wird er unter anderem von der Tessinerin Carla Juri. Hochkarätig ist auch die Crew hinter der Kamera: Regie führt mit Denis Villeneuve der Star des smarten Mainstreamkinos, für die Bilder ist der Kameragott Roger Deakins zuständig.

Fortsetzungen sind in Hollywood nichts Ungewöhnliches. In den vergangenen fünfzehn Jahren sind Sequels und Prequels praktisch zum Kerngeschäft der Filmindustrie geworden. Blockbuster, die nicht auf bestehenden Stoffen aufbauen, sind mittlerweile Raritäten. Man schaue sich nur die Star-Trek-, Star-Wars– und Planet-of-the-Apes-Filme an.

Dennoch ist Blade Runner 2049 ein Sonderfall, denn hier erhält ein Meisterwerk eine Fortsetzung, das sowohl inner- als auch ausserhalb der Filmindustrie längst mythische Dimensionen erreicht hat. Es ist wohl nur wenig übertrieben, zu behaupten, dass kaum ein Film in den vergangenen 35 Jahren so einflussreich war wie Ridley Scotts Science-Fiction-Klassiker.

Am Plot allein kann es nicht liegen, denn der ist simpel: Harrison Ford spielt Rick Deckard, Angehöriger einer Spezialeinheit, die Jagd auf rebellierende Androiden macht, Replikanten genannt. Eine Gruppe solcher Replikanten unter Anführung des charismatischen Roy Batty (Rutger Hauer) hat es auf die Erde geschafft und will nun von ihrem Erbauer ein längeres Leben erhalten. Deckard spürt die Gesuchten einen nach dem anderen auf, verliebt sich unterwegs in die schöne Replikantin Rachael (Sean Young) und flüchtet, nachdem er auch Batty zur Strecke gebracht hat, mit ihr aus der Stadt.

Die Handlung folgt in groben Zügen der literarischen Vorlage Do Androids Dream of Electric Sheep? (1968) von Philip K. Dick. Aber diese erklärt nicht die Wirkung des Films. Was Blade Runner so einzigartig macht, ist sein spezieller Look, der oft als «retrofitted future», also «nachgerüstete Zukunft» bezeichnet wird. Diese Zukunft ist nicht blitzblank und steril wie in Star Trek, sondern heruntergekommen und verbraucht.

Statt alte Häuser einfach abzureissen, hat man im filmischen Los Angeles von 2019 auf die bestehende Infrastruktur aufgebaut. Nichts ist aus einem Guss, Gebäude und Maschinen sind notdürftig zusammengebastelt und nachgebessert, einstige Hightech-Geräte haben Rost angesetzt. Ridley Scott zeigt die zukünftige Grossstadt als düsteren und verregneten Moloch.

Aus jeder Öffnung dampft es, überall wuseln schräge Gestalten herum, riesige Werbetafeln und japanische Schriftzeichen führen zur völligen Desorientierung. – Und mittendrin Harrison Ford als später Nachfahre des hardboiled detective der 1930er- und 1940er-Jahre, der wie einst Humphrey Bogart als einsamer Wolf im Trenchcoat durch die schummrigen Gassen schreitet.

Einfluss auf Games

Diese Mischung aus Film noir und Science Fiction, aus High- und Lowtech fand unzählige Nachahmer: Die Mitte der 1980er Jahre entstandene Cyperpunk-Literatur, in der sich einsame Netzcowboys durch den Dschungel der Grossstadt und der Computerdaten kämpfen, nahm entscheidende Impulse aus dem Film auf. Die japanische Megametropole, die William Gibson, der Urvater des Cyberpunks, in seiner Neuromancer-Trilogie beschreibt, ist Ridley Scotts Los Angeles erstaunlich ähnlich.




Augen, überall Augen …

Von der Science-Fiction-Literatur ging es weiter in die Welt der Games und Comics und wieder zurück zum Film. Seien es The Fifth Element, Dark City, die Neuverfilmungen von Battlestar Galactica und Ghost in the Shell oder Ex Machina – alle diese Filme verweisen mehr oder weniger deutlich auf Blade Runner und stehen mit ihm in Dialog.

Die Faszination für den Film erreichte bald auch die Seminarräume der Universitäten. Zu wenigen Titeln wurde so viel und so oft angestrengt Tiefsinniges geschrieben: die marode Welt des Films als Vision des kollabierenden Spätkapitalismus; Deckard – man beachte die Ähnlichkeit des Namens mit Descartes – als grosser Zweifelnder; der Film als Meditation über das Wesen des Menschen, als postmodernes Vexierbild. Und immer wieder das Augenmotiv. Blade Runner ist geradezu besessen von diesem Sinnesorgan. Angefangen bei der leinwandfüllenden Grossaufnahme eines Auges zu Beginn des Films – die allerdings nicht in allen Versionen enthalten ist und damit umso bedeutungsvoller wird –, über den Empathietest, den Deckard mit potenziellen Replikanten durchführt und der Pupillenkontraktionen misst. Warum ist jeweils ein rötliches Flackern in den Augen der Replikanten zu sehen? Hat es einen tieferen Grund, dass Tyrell, der zurückgezogene Erbauer der Replikanten, so übergrosse Brillengläser trägt? Warum drückt ihm Batty schliesslich die Augen ein?

Und dann natürlich der berühmte Schlussmonolog Battys, der mit den Worten ansetzt: «I’ve seen things you people wouldn’t believe – ich habe Dinge gesehen, die ihr nicht glauben würdet. » – Es geht bei Blade Runner um nicht weniger als die letzten Fragen, um Wahrnehmung, um die Beschaffenheit der Welt und darum, was uns zu Menschen macht.

Rutger Hauer

«I have seen things … » – Rutger Hauer in Blade Runner

Diese grosse Nachwirkung war nicht absehbar, als der Film 1982 in die Kinos kam. Dem offiziellen Start ging eine tumultuöse Produktionsgeschichte voraus. Ridley Scott und sein Hauptdarsteller konnten es nicht miteinander, die Crew war unzufrieden und drohte zu rebellieren, Drehplan und Budget waren bald nur noch Makulatur, zwischendurch wurde Scott sogar gefeuert.

Vom Flop zum Kultfilm

Als der Film schliesslich fertig war, gefiel den Studio-Oberen das ursprünglich vorgesehene offene Ende nicht, das lediglich zeigt, wie Deckard und Rachael im Fahrstuhl verschwinden. Ein Happy End musste her, das Scott auch lieferte. Aus Landschaftsaufnahmen, die ursprünglich für Stanley Kubricks Horrorfilm The Shining gedreht worden waren, bastelte er eine glückliche Fahrt ins Grüne.

Vielerorts ist zu lesen, dass Blade Runner bei Erscheinen ein Flop war. Das ist übertrieben. In Wahrheit war der Start nur mittelmässig, die Kritiken waren durchzogen. Blade Runner hätte einfach ein Film unter vielen sein können, der bald in Vergessenheit gerät. Doch es kam anders: Blade Runner wurde – primär auf VHS und später Laserdisc – zu einem Kultfilm, akribisch analysiert von seiner stetig wachsenden Fangemeinde. Schon früh machte dabei das Gerücht die Runde, dass der Film nicht der ursprünglichen Vision Scotts entspreche. 1992 erschien endlich der Director’s Cut, der auf das Happy End und den verhassten Voice-over-Kommentar verzichtete, stattdessen die sagenumwobene Traumsequenz mit einem Einhorn enthielt (für Nichteingeweihte: Blade-Runnerologen sehen darin einen eindeutigen Hinweis darauf, dass Deckard ebenfalls ein Replikant ist).

Der Haken an der Sache: Dieser angebliche Director’s Cut ist gar keiner. Scott, der sich vorher nie über die veröffentlichte Version beklagt hatte, war an der Fertigstellung dieser Fassung, die relativ schnell zusammengeschustert wurde, nicht beteiligt. Dennoch trug sie entscheidend zum Mythos des Films bei und machte das Konzept des Director’s Cut einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Mit dem Director’s Cut war damit aber keineswegs Schluss. Die Blu-Ray-Box, die 2012 anlässlich des 30. Geburtstags des Films erschien, enthielt fünf verschiedene Fassungen, darunter den 2007 veröffentlichten Final Cut, der genau dem entsprechen soll, was Scott schon immer wollte.

Was aber macht den Reiz des Films aus? Warum verbringen Fans Monate damit, Deckards Knarre, den sogenannten Blaster, nachzubauen? Wieso füllen Filmwissenschafter und Philosophen Bücher mit Analysen des Films? Es liegt nicht nur an der Schönheit der Bilder, an der überwältigenden Kraft, die dieser Film entfalten kann, sondern vor allem an seiner enormen Suggestivität.

Die Welt von Blade Runner fühlt sich echt an, sie hat eine haptische Qualität. Das liegt auch daran, dass hier noch analoge Tricktechnik, sprich, viel Modellbau, zum Einsatz kam. Man glaubt an die Realität dieses Settings; daran, dass diese Stadt hinter der nächsten Strassenkreuzung endlos weitergeht. Blade Runner zeigt einen belebten und lebenden Kosmos, der stets über seine eigene Geschichte und den Bildrand hinauszuweisen scheint.

Zugleich – und das ist nur auf den ersten Blick ein Widerspruch – liegt es an seinem extremen Pathos, der ständigen Überhöhung des Gezeigten. Scott ist seit je vor allem ein Bildermacher und weniger ein Geschichtenerzähler oder gar ein Psychologe. Blade Runner ist visuell extrem dicht und strotzt nur so von bedeutungsschwangeren Bildern. Die bevorzugten Kommunikationsformen sind das Deklamieren von Sentenzen oder das andeutungsvolle Raunen. Die beliebteste Darstellungsform ist das statuenhafte Erstarren im Halbdunkel. Und überall diese symbolisch aufgeladenen Bilder und mythologische Referenzen: Der Mord an Tyrell ist eine Szene mit eindeutig ödipalen Untertönen. Die Nägel, die sich Batty während des Showdowns in die Hand rammt, sind eine wenig subtile Anspielung auf die Jesus-Figur.

Darauf muss man sich freilich einlassen können. Wenn man es kann, erscheint der Film als ein Meer von kulturgeschichtlichen Hinweisen, die tiefere Bedeutung suggerieren. Wie ein nie endendes Spiel, bei dem es stets eine neue Sinn-Ebene zu entdecken gibt. So wird eine Szene wie Battys Schlussmonolog zu einem der ergreifendsten Momente der Filmgeschichte.

Auf Zuschauerinnen und Zuschauer, denen dieser Sprung nicht gelingt, wirkt Blade Runner leicht wie pseudo-tiefsinniger und sinnloser Kitsch. Was sind die «C-Beams», von denen Batty in seinem Monolog faselt? – Niemand weiss es, Rutger Hauer hat den Text improvisiert. Und was um Herrgottswillen hat die Taube hier zu suchen, die er bedeutungsschwanger gen Himmel steigen lässt? Blade Runner ist mehr als ein Film, er ist bis zu einem gewissen Grad Glaubenssache. Entsprechend gross ist die Aufgabe, die sich die Macher der Fortsetzung jetzt vorgenommen haben.

Eigentlich kann Blade Runner 2049 nur mehr oder weniger ehrenvoll scheitern. Es ist zwar positiv zu werten, dass Ridley Scott bei Blade Runner 2049 nur als Produzent fungiert und die Regie Denis Villeneuve überlassen hat. Denn Scotts jüngste Alien-Spinoffs, Prometheus und Alien: Covenant , legten die Vermutung nahe, dass er mittlerweile das grundlegendste erzählerische Handwerkszeug verlernt hat.

Jared Leto

Blade Runner 2049 nimmt das Augen-Motiv wieder auf

Denis Villeneuve hingegen hat mit Sicario, Prisoners und dem oscarnominierten Science-Fiction-Drama Arrival bewiesen, dass er cineastischen Anspruch und Massentauglichkeit vereinen kann. Dennoch: Auch wenn Blade Runner 2049 ein guter Film werden sollte, an den geradezu religiösen Status des Vorgängers wird er vermutlich kaum anknüpfen können.

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