In fremden Gefilden

BuchcoverMit Fantasy habe ich eigentlich wenig am Hut. Lord of the Rings habe ich vor Jahren gelesen, ohne dass es grossen Eindruck auf mich gemacht hätte, Harry Potter hat mich nach dem dritten Band nicht mehr sonderlich interessiert, und die neueren Fantasy-Blockbuster schaue ich mir – wenn überhaupt – eher aus Pflichtgefühl, denn aus genuinem Interesse an. Eine grosse Ausnahme bildet aber die Fernsehserie Game of Thrones, die mich restlos begeistert (ok, nicht völlig restlos. Staffel 5 und 6 konnten nicht ganz an die vorangegangenen Höhepunkte anschliessen).

Deshalb habe ich auch nicht lange gezögert, als mich Markus May letztes Jahr anfragte, an der von ihm organisierten Tagung zu Game of Thrones resp. zu Songs of Ice and Fire teilzunehmen (ich habe hier schon früher geschrieben). Nun ist, ungewöhnlich schnell und quasi passend zum Fernsehinterview, das ich kürzlich gegeben habe, der Tagungsband erschienen. Ich bin darin mit einem Artikel zur erzählerischen Funktion der Sexszenen in GoT vertreten.  Dazu ein Zitat aus der Einleitung:

Simon Spiegel untersucht in »›Everything in the world is about sex, except sex. Sex is about power.‹ Die Funktion der Sexpositions in GOT« die sowohl für Fern-sehverhältnisse wie auch die filmische Fantasy ungewohnt expliziten Sexszenen von GOT anhand des von Myles McNutt geprägten, in der Diskussion von GOT inzwischen etablierten Begriffs der Sexposition. Spiegel lokalisiert den Begriff im Rahmen des Quality TV-Diskurses, nutzt ihn für eine detaillierte Analyse der Sexszenen von GOT und zeigt, dass deren Funktion in der Serie die Sexposition als voyeuristische Informationsquelle weit überschreitet.

Wenn in «Game of Thrones» die Hüllen fallen, werden meist Machtfragen verhandelt.

Wenn in Game of Thrones die Hüllen fallen, werden meist Machtfragen verhandelt.

Update: Der Artikel ist mittlerweile online verfügbar.

 

Markus May / Michael Baumann / Robert Baumgartner / Tobias Eder (Hg.): Die Welt von »Game of Thrones«. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf George R.R. Martins »A Song of Ice and Fire«. Transcript: Bielefeld 2015
400 Seiten, ISBN 978-3837637007, 29,99.– €.

Erhältlich bei Amazon.

Inhaltsverzeichnis und Einleitung.

 

ZfF #11

Spät kommt sie, aber sie kommt. Rechtzeitig vor der GFF-Jahrestagung in Münster sollte dieser Tage die neue Ausgabe der Zeitschrift für Fantastikforschung bei den Abonnenten eintrudeln. Eigentlich hätte sie schon vor mehreren Monaten erscheinen sollen, aus verschiedenen Gründen hat sich die ganze Sache aber leider verzögert.

Neben rund 60 Seiten mit Rezensionen aktueller wissenschaftlicher Literatur bietet die Ausgabe viel Material für alle, die am SF-Kino interessiert sind. Joerg Hartmann leistet in seinem Artikel «‹An absolutely fascinating period piece …›» Grundlagenforschung. Hartmann ist im Rahmen seines Forschungsprojekts, in dem es eigentlich um die Metapher des Raumflugs geht, über Anton Kutters Kurzfilm Weltraumschiff 1 startet – Eine technische Fantasie aus dem Jahr 1936 gestolpert. Kutter war nicht nur Filmemacher, der nach ersten Erfolgen unter den Nazis in Ungnade fiel, sondern auch ein begeisterter Hobby-Astronom. Sein Film (auf YouTube verfügbar, s. unten) ist ein aus heutiger Sicht seltsamer Hybrid aus Fiktion- und Nichtfiktion mit durchaus sehenswerten Spezialeffekten. Über diesen halb vergessenen Film war bislang wenig Gesichertes bekannt; Hartmann hat sich in Archive begeben sowie Kutters Sohn Adrian ausfindig gemacht und kann nun erstmals die Entstehung dieses filmhistorischen Kuriosums dokumentieren.

Szilvia Gellai widmet sich in ihrem Artikel ebenfalls dem deutschen SF-Kino und zwar Rainer Werner Fassbinders Welt am Draht von 1973Fassbinders Verfilmung von Daniel F. Galouyes Roman Simulacron-3 aus dem Jahr 1964 ist zwar deutlich weniger obskur als Weltraumschiff 1 startet, da der Film aber lange nicht greifbar war, umwehte in während Jahren ein Hauch des Legendären. Welt am Draht ist eine Art Matrix avant la lettre und spielt in einer Welt, in der eine perfekte Computersimulation existiert, deren ‹Bewohner› nicht wissen, dass sie bloss Programme sind. Natürlich stellt sich je länger je mehr die Frage, ob denn die vermeintliche «Basiswelt» nicht ihrerseits ebenfalls eine Simulation ist. Gellai rückt den Moment des Conceptula Breakthrough, also die schlagartige Einsicht, dass die Welt ganz anders beschaffen ist als bisher gedacht, ins Zentrum ihrer Überlegungen und arbeitet zahlreiche Parallelen zwischen Fassbinders Film und Sigmund Freuds tiefenpsychologischem Modell heraus.

Welt am Draht

Virtual Reality im Jahr 1973

 

TitelblattAls ich vor gut zehn Jahren meine Dissertation Die Konstitution des Wunderbaren schrieb, konnte ich in der Einleitung noch guten Gewissens festhalten, dass kaum wissenschaftliche Studien zum SF-Fandom existieren würden. Das hat sich mittlerweile drastisch geändert, die Fan Studies gehören seit einigen Jahren zu den boomenden Feldern innerhalb der Fantastikforschung. Matthias Völckers Beitrag ist hierfür ein Beispiel. Völcker präsentiert in seinem Artikel «‹Du bist einfach nur ein absoluter Freak›» die Ergebnisse einer empirischen Untersuchung, in deren Rahmen er 25 Interviews mit Star-Wars-Fans im Alter von sieben bis 46 Jahren geführt hat. Obwohl sich die interviewten Fans in Alter, Geschlecht und Interessen – einige der jüngeren Fans haben die Star-Wars-Filme noch gar nicht gesehen – unterscheiden, gibt es auch zahlreiche Gemeinsamkeiten. So beschreiben alle Interviewten eine Art Initiationserlebnis, das sie zum Fan machte; für alle ist Star Wars ein identitätsstiftender Gegenstand, der Teil ihres eigenen Selbstverständnisses ist.

AuroraIn meinem eigenen Beitrag beschäftige ich mich für einmal nicht mit Film. Vielmehr widme ich Aurora, dem jüngsten Roman des von mir hoch geschätzten Kim Stanley Robinson. In Aurora, der in SF-Kreisen für einigen Wirbel gesorgt hat, erteilt Robinson der Idee, dass der Mensch in absehbarer Zeit Planeten ausserhalb des Sonnensystems besiedeln könnte, eine deutliche Absage, was für manchen eingefleischten SF-Fan schon fast an ein Sakrileg grenzt.. Was mich in meinem Review Essay aber fast mehr interessiert, ist die Erzählkonstellation des Romans, denn als Erzähler fungiert in Aurora das Raumschiff, mit dem die Menschen zum titelgebenden Mond Aurora unterwegs sind. Ergänzt werden meine Überlegungen durch ein Interview mit Robinson, der sich wie immer als äusserst reflektierter Zeitgenosse erweist und über die teilweise heftigen Reaktionen keineswegs überrascht war: «Ich hätte etwas falsch gemacht, wenn es nicht zu entsprechenden Reaktionen gekommen wäre» (S. 88).

Das Inhaltsverzeichnis zum Download.

Neuerscheinung: «Einführung in die Filmgeschichte» Band 2

Dieser Tage ist der zweite Band der Einführung in die Filmgeschichte erschienen, an der zahlreiche Mitarbeiter des Seminars für Filmwissenschaft der Universität Zürich mitgearbeitet haben. Als Herausgeber fungiert wieder Thomas Christen, von dem auch die meisten Artikel stammen.

Das Buch trägt den Titel Vom Neorealismus bis zu den Neuen Wellen: filmische Erneuerungsbewegungen 1945-1968, womit auch schon klar wäre, welcher Zeitraum auf den über 500 Seiten abgedeckt wird. Wie schon beim zuerst erschienenen dritten Band – wir gehen rückwärts durch die Filmgeschichte – ist das Buch nicht streng chronologisch, sondern thematisch aufgebaut, wobei der jeweilige Fokus der einzelnen Kapitel teilweise auf ganz unterschiedlichen Ebenen liegt. So gibt es die durchaus erwartbaren Kapitel zum italienischen Neorealismus oder zur französischen Nouvelle Vague, aber auch auf den Moment vielleicht weniger offensichtliche Themen wie «Art Cinema und Autorenfilm» oder «Italowestern».

Mein eigener Beitrag steht ebenfalls etwas quer zu einer klassischen Filmgeschichte, denn ich widme mich in einem Kapitel der James-Bond-Serie und decke damit einen Zeitraum von über 50 Jahren ab. Die Arbeit an diesem Text war ziemlich aufwendig, denn zu James Bond gibt es schlicht Unmengen von Literatur, sie war mir aber ein Herzensanliegen. Als kleiner Junge war James Bond für mich der Inbegriff eines sehenswerten Films, und obwohl ich mit den neueren Auftritten von 007 meine liebe Mühe habe (siehe dazu meinen Artikel im Frame sowie meine Spoiler-Kolumne zu Spectre), ist meine Liebe zu den klassischen Bonds ungebrochen.

Das Buch

Frisch von der Presse: Mein Belegexemplar.

Thomas Christen (Hg.): Einführung in die Filmgeschichte. Bd. 2: Vom Neorealismus bis zu den Neuen Wellen: filmische Erneuerungsbewegungen 1945-1968. Schüren: Marburg 2o16.
520 Seiten, Klappbroschur, ISBN 978-3-89472-497-9, 38.– €.

Erhältlich bei Amazon.

Inhaltsverzeichnis und Einleitung.

Die Zukunft mit der Maus – Walt Disneys EPCOT

Der Name «Walt Disney» ist für die meisten gleichbedeutend mit Animationsfilm. Weitgehend vergessen ist dagegen seine Rolle als futuristischer Visionär. Der folgende Artikel, der in der Ausgabe 5/2016 der Zeitschrift Vintage Times erschienen ist, ergänzt meine früheren Überlegungen zum Disney-Film Tomorrowland.

Seinen letzten Film drehte Walt Disney im Oktober 1966, knapp zwei Monate vor seinem Tod. Hauptdarsteller: er selbst. Thema: die Stadt der Zukunft. Für alle, die mit dem Namen Walt Disney primär familientaugliche Unterhaltung assoziieren, dürfte der knapp 25-minütige Promotionsfilm eine echte Überraschung darstellen. Denn was der Herr der Mäuse hier präsentiert, hat weder mit putzigen Nagern oder Prinzessinnen noch mit Themenparks zu tun. Zwar spricht Disney über sein neuestes und bislang grösstes Projekt Disney World, für einmal geht es aber nicht um Zauberschlösser, Achterbahnen und Merchandising. Herz der geplanten Anlage soll vielmehr eine technische Musterstadt der Zukunft sein. Eine «Experimental Prototype City of Tomorrow», kurz EPCOT.

Mit EPCOT wollte Disney einen Beitrag zu dem in seinen Augen drängendsten Problem der Gegenwart leisten, der Stadtplanung. In den 1960er Jahren litten Grossstädte wie New York oder Los Angeles unter Verkehr, Kriminalität und sozialen Unruhen, und Disney war überzeugt, dass er dazu berufen war, hier segensreich zu wirken. Schliesslich hatte er mit Disney Land schon einmal vorgemacht, wie man erfolgreich eine Idealstadt betreibt.

EPCOT-Modell

Das Herz von EPCOT im Modell.

Ein mittelmässiger Zeichner

So vermessen Disneys Anspruch erscheinen mag, im Grunde war EPCOT der logische Schlusspunkt vieler Projekte und Initiativen, die der umtriebige Studioboss im Laufe seines Lebens lanciert hatte. Schon früh war Disney nicht nur ein Animator. Tatsächlich war der 1901 geboren Trickfilmpionier ein eher mittelmässiger Zeichner, was in späten Jahren zu peinlichen Momenten führte, wenn er etwa auf Wunsch eines kleinen Fans seine berühmte Maus zu Papier bringen sollte und nur eine krakelige Karikatur zustande brachte. Disney war aber ein begnadeter Organisator, der es nicht nur verstand, Talente zu entdecken und an sich zu binden, sondern der auch bereit war, grosse unternehmerische Risiken einzugehen. Technische Neuerungen spielten dabei eine wesentliche Rolle. Disney sah nicht nur sehr früh, welche Möglichkeiten der Ton dem Animationsfilm eröffnete. Als die Firma Technicolor 1932 ihr neues Dreifarben-Verfahren präsentierte, war er davon derart begeistert, dass er den in der Produktion bereits weit fortgeschrittenen Kurzfilm «Flowersand Trees» komplett neu als Farbfilm konzipieren liess und einen über drei Jahre laufenden Exklusivvertrag mit Technicolor abschloss.

Seine Interessen beschränkten sich bald nicht nur auf die Filmbranche. Das 1955 im kalifornischen Anaheim eröffnete Disneyland gab eine erste Kostprobe davon, was Disney jenseits der Leinwand alles vorhatte. Mochten bei der Eröffnung auch gut die Hälfte der Attraktionen noch nicht funktionieren, so fungierten der Themenpark und das Disney-Fernsehprogramm gleichen Namens für Walt dennoch als eine Art Trainingscamp für die Zukunft. In den Fernsehsendungen, in denen der eigentlich kamerascheue Patron als Host auftrat, erklärte er mittels Zeichentrickeinschüben und mit fachkundiger Unterstützung von Experten wie dem deutschen Raketenpionier Wernher von Braun die Möglichkeiten und Risiken der Raumfahrt oder warb – in einer Episode mit dem neckischen Titel «Our Friend the Atom» – für die Nutzung der Atomenergie. Und das eigentliche Prunkstück von Disneyland war die Sektion Tomorrowland, welche die Welt im Jahre 1968 zeigte und in der man im TWA Moonliner einen Mondflug miterleben und im Autopia-Ride einen Vorgeschmack auf das im Entstehen begriffene Fernstrassennetz erhaschen konnte.

EPCOT-Stadtplan

Walt Disney vor einem Stadtplan von EPCOT.

«A Great Big Beautiful Tomorrow»

Disney sah in diesen Attraktionen mehr als reine Amüsements. Für ihn stand ausser Frage, dass Wissenschaft und Technik der Menschheit eine glänzende Zukunft bescheren würden. Wenig überraschend war er auch ein begeisterter Befürworter von Weltausstellungen, die traditionell als technische Leistungsschau konzipiert waren. Zur World’s Fair von 1964 in New York steuerten seine «Imagineers» nicht weniger als vier Attraktionen bei, von denen drei später ihre permanente Bleibe in einem der Disney-Themenparks finden sollten. Disneys persönlicher Favorit, von dem er nach eigener Aussage wünschte, dass er nie seinen Betrieb einstellen sollte, war das Carousel of Progress, in dem Roboter-Puppen als amerikanische Durchschnittsfamilie agierten und über mehrere Stationen hinweg den technischen Fortschritt zelebrierten. Schwärmt der Familienvater zu Beginn des Jahrhunderts noch von Gaslampen und einer handbetriebenen Wäschemangel, kommen später ein Radio, elektrisches Licht und schliesslich ein automatischer Geschirrspüler sowie ein Fernsehgerät hinzu. Unterlegt ist diese Erfolgsgeschichte von einem nervtötend fröhlichen Song der Oscar-gekrönten Sherman Brothers mit dem viel sagenden Titel «There’s a Great Big Beautiful Tomorrow».

Das Carousel of Progress, das heute in Walt Disney World noch immer in Betrieb ist, wurde mehreren Revisionen unterzogen. In der letzten, 1993 konzipierten Episode sieht man nun eine Familie im Jahr 2000 bei ihrer Weihnachtsfeier. Während der Hausherr mit dem auf Sprachkommandos reagierenden Ofen kämpft, versucht sich die Grossmutter am neuesten Virtual-Reality-Game. Obwohl man mit solchen Aktualisierungen auf der Höhe der Zeit bleiben will, wirkt die ganze Anlage auf eine unangenehme Weise altmodisch. Das liegt nicht an den Robotern, die eher einen retrofuturistischen Charme versprühen, sondern an der stockkonservativen Gesinnung, welche die gesamte Inszenierung durchdringt. Dass die Oma ihren Neffen im Computergame schlägt, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Welt von Disney auch im 21. Jahrhundert noch die der weissen Mittelklasse ist, einer «All American Family», die es so wohl auch zu Walts Zeiten nicht gab und die mit der gesellschaftlichen Realität der Gegenwart definitiv nichts mehr zu tun hat.

Carousel of Progress

Der Hund darf in der “All American Family” des Carousel of Progress nicht fehlen.

Die Planstadt als Labor der Zukunft

Fortschritt bedeutete für Walt Disney nie gesellschaftliche Progressivität; vielmehr verschmelzen bei ihm technische Innovation und soziale Rückwärtsgewandtheit auf eigentümliche Weise. Dies zeigt sich auch in seiner Konzeption von EPCOT, das mehr werden sollte als ein blosser Themenpark. EPCOT war nicht als Jahrmarktsattraktion gedacht, sondern als echte Stadt, in der 20’000 Menschen wohnen und arbeiten und auf diese Weise die Zukunft quasi vorleben sollten. Mit Unterstützung der gesamten amerikanischen Industrie wollte Disney ein lebendiges Stadtlaboratorium mit Wohn-, Arbeits- und Konsumbezirken, unterirdischen Highways und einem ausgeklügelten öffentlichen Verkehrssystem aus dem Boden stampfen.

Frappant an dem Projekt ist nicht nur der unbedingte Glaube an technische Lösungen, sondern auch die völlige Absenz von Politik. Stadtplanung ist in EPCOT ausschliesslich eine Aufgabe für Ingenieure; soziale Probleme werden, soweit sie überhaupt registriert werden, auf technische Probleme reduziert. Klassenunterschiede, gesellschaftliche Entwicklungen oder Fragen der politischen Organisation sind für diese Stadt der Zukunft nicht weiter relevant.

EPCOT war von Walt Disney als sein Vermächtnis gedacht, als Geschenk an die Menschheit, dem er sich am Ende seines Lebens voll und ganz widmete. Selbst als er sich einen Monat vor seinem Tod einer schweren Lungenoperation unterzog, werkelte er noch im Spitalbett an seiner Vision. Ohne die Begeisterung ihres geistigen Vaters wurden die Ambitionen für die Zukunftsstadt dann aber schnell zurückgefahren. Als Walts Bruder Roy Walt Disney World 1971 eröffnete, war von EPCOT nichts zu sehen. 1982 wurde schliesslich doch noch ein Vergnügungspark namens EPCOT auf dem Gelände von Walt Disney World in Betrieb genommen. Im EPCOT von heute geht es auch irgendwie um Wissenschaft und Technik, von der ursprünglichen Idee einer funktionierenden Zukunftsstadt ist aber nichts übrig geblieben.

Sonja Schmid: Im Netz der Filmgenres

Erschienen im Quarber Merkur 116.

Genres sind seltsame Gebilde. Als Kinogänger oder Leser verknüpfen wir Erwartungen mit ihnen, die von den jeweiligen Werken in der Regel auch erfüllt werden. Genres sind somit sowohl für die Produktion als auch die Rezeption von fundamentaler Bedeutung, was eigentlich nahelegen würde, dass dem Konzept auch in der Wissenschaft eine zentrale Funktion zukommen müsste.

In der Realität ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Genres aber von einem eigenartigen Widerspruch geprägt. Auf der einen Seite gibt es die Genretheorie, die versucht, dem Phänomen auf konzeptioneller Ebene gerecht zu werden. Grundlegende Frage ist hier, was Genres eigentlich sind resp. wie sie sich historisch konstituieren. Obwohl die Schwerpunkte in Film- und Literaturwissenschaft nicht deckungsgleich sind, hat sich mittlerweile beiderorts die Erkenntnis durchgesetzt, dass Genres nicht als abstrakte Entitäten existieren, sondern im Gebrauch entstehen und sich verändern. Genres sind nicht objektiv in ein Werk eingeschrieben, sondern diskursive Begriffe, welche von ihren »Nutzern« geprägt werden. Je nach Benutzergruppe können sich Genrebezeichnungen und -konzeptionen deshalb stark unterscheiden. Ein Kinogänger der 1930er Jahre hatte andere Erwartungen an einen Western als ein zeitgenössischer Zuschauer, und während ein SF-Fan mit dem Begriff »Steampunk« bestimmte Motive und Plot-Elemente assoziiert, dürfte sich ein in der SF nicht bewanderter Leser gar nichts darunter vorstellen.

John Wayne in Stagecoach

Was ist ein typischer Western? John Wayne in John Fords Stagecoach (1939).

Insbesondere in der Filmtheorie ist man deshalb schon seit Längerem von der Vorstellung abgerückt, Genres ließen sich in irgendeiner Weise als abstraktes, in sich logisches System modellieren. Genretheoretiker wie Rick Altman oder Steve Neale verstehen Genres vielmehr als pragmatische und multidiskursive Begriffe, die nur im konkreten Gebrauch sinnvoll analysiert werden können. Das bedeutet auch, dass sich die Wissenschaft nicht auf die (film)textliche Untersuchung einzelner Werke beschränken kann, sondern ebenso den Entstehungs- und Rezeptionskontext in Betracht ziehen muss. Vor welchem Hintergrund entsteht ein Werk, wie wird es vermarktet und rezipiert, inwieweit reagiert es auf bereits bestehende Werke und provoziert seinerseits – Stichwort Intertextualität – Reaktionen etc.? Genretheorie wird somit zur Genregeschichte.

Eine derartige Genreanalyse ist nicht nur äußerst aufwändig, sondern auch zwangsläufig begrenzt und stets nur vorläufig. Dies mag erklären, warum sich die Erkenntnisse der Genretheorie bislang kaum in der »praktischen« wissenschaftlichen Arbeit niedergeschlagen haben. Zwar hat die Theorie hoch elaborierte Modelle zur Beschreibung ihres Gegenstands entwickelt, die meisten Genrestudien scheren sich darum aber keinen Deut. Stattdessen werden Genres vielerorts nach wie vor als textlich fixierbare Gebilde betrachtet, und Genregeschichte nimmt nicht selten die Form einer teleologischen Erzählung an, in deren Verlauf sich ein Genre von seiner Rohform hin zum Meisterwerk verfeinert, um dann anschließend zu degenerieren. Untersuchungen, welche die Erkenntnisse der Theorie ernst nehmen und Genres in ihrer ganzen Vielschichtigkeit beschreiben, sind nach wie vor rar.

Sonja Schmids Studie Im Netz der Filmgenres erscheint da als erfreuliche Ausnahme. Das Buch, das auf Schmids Dissertation an der Universität Bayreuth zurückgeht, versteht sich explizit als »Plädoyer für eine vernetzte Genregeschichtsschreibung« und begreift Genres als »intertextuelle Schaltstellen« (13). Anhand von Peter Jacksons The-Lord-of the-Rings-Trilogie (NZ/USA 2001–2003) und deren Bedeutung für die Fantasy will Schmid »die vielfältigen Prozesse und Dynamiken aufzeigen, die sowohl auf diachroner wie synchroner Ebene zu der Entstehung des […] Werks beigetragen haben und damit maßgeblich auch die Weiterentwicklung des Fantasy-Genres als solches beeinflusst haben« (16).

Cover Im Netz der Filmgenres

Der Ansatz ist somit klar und lobenswert, die Umsetzung kann allerdings nicht vollständig überzeugen. An Schmids Studie lässt sich ein Phänomen beobachten, das für Dissertationen – insbesondere für deutschsprachige – typisch ist: Ein massiver Theorieüberhang. Das liegt zum einen daran, dass die deutschsprachigen Geisteswissenschaften traditionell mehr an Theorie und Systematisierung interessiert sind als die angelsächsischen. Es hängt aber auch mit der besonderen Textform Dissertation zusammen. Eine Dissertation ist typischerweise die erste wissenschaftliche Arbeit, in die man sich als angehender Akademiker so richtig vergräbt. Es ist ganz natürlich, dass man all die Zeit, die man mit Recherchen verbracht hat, am Ende in textlicher Form sichtbar machen will. Zugleich gehört es zu den Spielregeln einer Dissertation, dass man fortlaufend unter Beweis stellt, wie gut man sein Gebiet kennt. Es ist eine große Herausforderung, genug Abstand von seinem Gegenstand zu gewinnen, um abzuschätzen, was für einen potenziellen Leser tatsächlich relevant sein könnte. Oft glückt dies nicht ganz, weshalb viele Dissertationen mit einem überlangen Theorieteil aufwarten, in dem ausführlich Detailfragen diskutiert werden, die für die eigentliche Untersuchung kaum Relevanz besitzen.

Im Netz der Filmgenres ist hierfür exemplarisch: Von den knapp 250 Seiten Text entfallen rund hundert auf eine Diskussion des Genrekonzepts und dem als New Film History bezeichneten Ansatz der Geschichtsschreibung, dem Schmid folgt. Es gibt hier auch einige inhaltliche Schnitzer – so behauptet Schmid, Tzvetan Todorov verlagere in seiner Phantastiktheorie die »Genrefrage in den Rezipienten« (24), was schlicht falsch ist. Auch Schmids Gebrauch des Begriffs ›Prototypenmodell‹ ist ungewohnt; normalerweise wird damit ein aus der kognitiven Psychologie resp. Linguistik stammendes Konzept bezeichnet. Unter Prototyp wird dabei ein mentales Konstrukt verstanden, das einen typischen Vertreter einer bestimmten Kategorie darstellt. Schmid meint mit Prototypenmodell dagegen einen an Northrop Frye angelehntes Archetypen-Ansatz. Zwar macht sie auf den Bedeutungsunterschied aufmerksam (27, Anm. 37), im Kontext der Genretheorie ist diese Nomenklatur aber ungewohnt. Im Großen und Ganzen sind Schmids Ausführungen allerdings korrekt und gut nachvollziehbar, sie fallen einfach viel zu umfangreich aus, denn worauf die Autorin hinauswill, ist eigentlich von Beginn an klar,

Schmid kennt ihren Gegenstand und die relevante Fachliteratur, ihre Stärke liegt aber nicht darin, das Gelesene zu synthetisieren. Dies ändert sich auch im dritten Teil nicht, in dem sie schließlich auf das Fantasy-Genre zu sprechen kommt. Inhaltlich gibt es hier ebenfalls Unstimmigkeiten, etwa die Aussage, der Phantastik-Forscher Uwe Durst beschäftige sich primär mit Fantasy (140, Anm. 406), oder die Behauptung, der Begriff »Fantasy« habe sich erst in den 1980er Jahren im Zusammenhang mit Filmen wie Excalibur (John Boorman. USA 1981) und Time Bandits (Terry Gilliam. GB 1981) durchgesetzt (119). Für Stirnrunzeln sorgt auch eine Fußnote zum Merchandising von Star Wars. Nach Schmid hat das Franchise über diesen Vermarktungskanal 20 Millionen Dollar eingebracht (184, Anm. 545), obwohl selbst die von ihr angeführte Quelle von mehr als 22 Milliarden Dollar spricht. Trotz solcher offensichtlicher Flüchtigkeitsfehler ist aber das eigentliche Problem, dass die Autorin fast nur Bestehendes referiert.

John Boormans Excalibur

John Boormans Excalibur – hat dieser Film wirklich den Begriff ‹Fantasy› populär gemacht?

Nach gut 170 Seiten Vorarbeit kommt das Buch dann endlich bei der Hauptsache an, bei Peter Jacksons Trilogie. Im Folgenden wird ein ganzer Katalog von relevanten Perspektiven durchgearbeitet: Lord of the Rings als typischer Vertreter des Fantasy-Genres, technische, wirtschaftliche und sozio-historische Aspekte sowie intertextuelle und intermediale Bezüge. Schmids Ausführungen zum Realitätseindruck von Lord of the Rings, der Figurengestaltung und dem Marketing ist grundsätzlich zuzustimmen, aber irgendwie wird nie recht ersichtlich, wozu der ganze vorangegangene theoretische Aufwand nötig war. Schmid betont zurecht, dass »es eines Blickes auf die vielfältigen Diskurse, die an der Produktion des Werkes beteiligt sind« (254) bedarf, um dieses adäquat in der Geschichte des Genres einzuordnen. Aber obwohl immer wieder von Netzwerken und Querbezügen die Rede ist, bleibt das Vorgehen weitgehend additiv.

Das Kapitel »The The Lord of the Rings im multidiskursiven Netzwerk der generic user[sic!]«, das eigentlich das Zentrum der Untersuchung bilden müsste, fällt inhaltlich besonders schwach aus. Auf die empirische Fanforschung, die just in diesem Bereich einiges zu bieten hätte, nimmt Schmid kaum Bezug. Die Ausführungen zu CGI und wirtschaftlichen Aspekten wiederum sind oberflächlich, der Abschnitt zu NS-Bezügen geradezu hanebüchen; Schmid verquickt hier die Interpretation von Tolkiens Trilogie als Allegorie auf den Zweiten Weltkrieg – eine Leseweise, gegen die sich der Autor stets gewehrt hat – mit der Frage, inwieweit Jackson sich an die Ikonographie von NS-Propagandafilmen anlehnt. Zwei Dinge, die überhaupt nichts miteinander zu tun haben.

Obwohl das als Hardcover erschienene Buch auf den ersten Blick ansprechend daherkommt, entpuppt es sich bei genauerer Lektüre als eher unsorgfältig gemacht. Es wimmelt von kleineren bis mittleren typographischen, sprachlichen und inhaltlichen Fehlern. Besonders auffallend ist eine seltsam verzerrte Zeitwahrnehmung der Autorin: So wird Robin Woods 1979 erschienene Essaysammlung American Nightmare zitiert, um »jüngere Tendenzen im Horrorgenre« (202, Anm. 592) zu charakterisieren, obwohl zwischen den Filmen, die Wood beschreibt, und Jacksons Trilogie gut 30 Jahre liegen. Dazu passt, dass Schmid die Ära des New Hollywood, deren Beginn normalerweise Ende der 1960er Jahre angesetzt wird, in die 1990er Jahre verlagert. Die Einschätzung, Jacksons Glück sei gewesen, dass die CGI-Technologie »eben erst« (217) ihren Durchbruch erlebt habe – nämlich mit Jurassic Park (Steven Spielberg. USA 1993) –, zeugt ebenfalls von einem seltsamen Zeitverständnis, liegen zwischen den beiden Filmen doch fast zehn Jahre.

All diese Fehler wären zu verschmerzen, würde Schmid mit genuin interessanten Einsichten aufwarten. Insgesamt überwiegt aber der Eindruck »viel Aufwand, wenig Ertrag«. Als Beispiel für die Fruchtbarkeit eines modernen genretheoretischen Ansatzes taugt Im Netz der Filmgenres somit nur begrenzt.

Schmid, Sonja: Im Netz der Filmgenres. The Lord of the Rings und die Geschichtsschreibung des Fantasygenres. Tectum-Verlag: Marburg 2014, 294 Seiten, Hardcover, 29,95€. Bei Amazon erhältlich.

Die Zukunft der Arbeit

Dass Roboter eine Bedrohung für die Menschheit darstellen, wissen wir aus zahlreichen SF-Filmen und -Romanen. Doch in der Realität scheint die Gefahr nicht von Terminatoren auszugehen, sondern von vorderhand völlig harmlosen, durchaus nützlichen Maschinen. In jüngster Zeit sind mehrere Studien zur Arbeitswelt von morgen erschienen, und der Tenor ist dabei stets derselbe: Fortschritte in der Robotertechnik und bei intelligenten Systemen werden dazu führen, dass immer mehr Tätigkeiten nicht mehr von Menschen, sondern von zuverlässigeren und vor allem günstigeren Maschinen ausgeführt werden. Ein Beispiel: Eine Studie von Carl Benedikt Frey und Michael A. Osborne der Oxford University kommt zum Schluss, dass 47 Prozent der Stellen in den USA mittelfristig von computerisierten System übernommen werden könnten; eine auf dieser Studie aufbauende Untersuchung kommt für die Schweiz zu ähnlichen Zahlen.

Die Autoren der Oxford-Studie unterscheiden zwischen 702 verschiedenen Berufsgattungen und nehmen Einschätzungen vor, wie wahrscheinlich es ist, dass dereinst Maschinen die jeweiligen Aufgaben übernehmen. Nicht weiter erstaunlich, sind hoch repetitive Jobs, die weder besondere Kreativität noch soziale Kompetenzen voraussetzen, stärker bedroht als solche, bei denen Ideen oder der zwischenmenschliche Kontakt wichtig sind. Zuunterst auf der Liste tauchen Beschäftigungen wie Telefonverkäufer (wobei hier social skills doch eigentlich wichtig wären), Versicherungsangstellte sowie alle möglichen Arten von Servicetechnikern auf. Ganz oben auf der Liste und somit unersetzlich sind zahlreiche Berufe aus dem medizinischen und therapeutischen Bereich. Filmwissenschaftler sind in der Studie zwar nicht erwähnt, aber dennoch halbwegs beruhigend für mich: Für «writers and authors» beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass sie ersetzt werden nur 0.038 (wobei 0 «nicht computerisierbar» und 1 «computerisierbar» bedeutet).

Der Terminator

Die Zukunft des Telefonmarketings?

Für sich genommen wäre diese Prognose nicht sonderlich alarmierend, schliesslich ist im Laufe der Geschichte so mancher Berufszweig verschwunden. Es gibt zumindest in unseren Breitengraden keine Weber und Spinner mehr, Züge fahren ohne Heizer und auch der Bedarf an Kutschern und Sattlern ist heute noch mehr sehr gross wie einst. Der grosse Unterschied der kommenden industriellen Revolution zu früheren sei aber, dass die wegfallenden Jobs nicht durch neue kompensiert werden. Die Gesamtmenge der verfügbaren Arbeit wird deutlich schrumpfen. Ob diese Voraussage zutrifft, ist freilich umstritten. Während das eine Lager darauf verweist, dass in der Vergangenheit zwar Berufszweige verschwanden, aber immer auch neue entstanden, ist die andere Seite überzeugt, dass die Situation dieses Mal grundsätzlich anders sei.1

Natürlich sind solche Prognosen stets mit Vorsicht zu geniessen sind; wenn uns die Geschichte etwas lehrt, dann, dass die Zukunft meist anders kommt, als man denkt. Und wenn ich mir anschaue, wie fehleranfällig Technik oft ist – gerade ist mir ein externe Festplatte abgerauscht –, dann bin ich doch ein bisschen skeptisch, ob die automatisierte Zukunft tatsächlich so viel zuverlässiger sein wird.

Ich möchte hier auch gar nicht auf die Stichhaltigkeit dieser und anderer Studien eingehen, sondern darauf, wie diese anscheinend unvermeidbare Zukunft wahrgenommen wird. Vielleicht täusche ich mich, aber mir scheint, dass diese Veränderung meist als negative dargestellt wird. Der Tages-Anzeiger etwa titelte diese Woche «Lernende Roboter als ‹grösste existenzielle Bedrohung›». Der eigentlich Artikel erweist sich zwar als weniger reisserisch, die Aussicht, dass viele Arbeiten dereinst von Maschinen übernommen werden, erscheint alles in allem aber als unerfreulich, als Problem.

Wenn in den nächsten 20, 30 Jahren, tatsächlich die Hälfte oder auch nur ein Drittel oder Viertel der heute existierenden Arbeitsplätze verschwinden würde, dann wäre das für den Sozialstaat, wie wir ihn heute haben, in der Tat eine verheerende Entwicklung. Steuereinnahmen würden zurückgehen, zugleich wären viel mehr Menschen mangels Stelle auf Unterstützung angewiesen. Unsere aktuellen Einrichtungen wären kaum in der Lage, diese Entwicklung aufzufangen.

Allerdings ist unser aktuelles System nicht das einzig mögliche, und deshalb lohnt es sich, mal einen Blick in die utopische Literatur zu werfen. Dabei zeigt sich, dass die Reduktion der Arbeitszeit zu den grossen Konstanten der Utopiegeschichte gehört. Dies beginnt bereits mit Thomas Morus’ Utopia. Auf der Insel Utopia arbeiten alle, zudem wurden zahlreiche überflüssige «Luxusberufe» abgeschafft. Es gibt somit weniger Arbeit, die auf mehr Leute verteilt wird. Das Ergebnis: Auf Utopia muss jeder Einwohner nur sechs Stunden pro Tag arbeiten. Bei Morus erscheint dies selbstredend als etwas durch und durch Positives; in der Freizeit bilden sich die Utopier weiter, treiben Sport, frönen der Künste.

Dieses Muster zieht sich durch die ganze Utopiegeschichte. Zum Beispiel führte der englische Sozialist und Reformer Robert Owen in seiner utopischen Siedlung New Lanark den Zehnstunden-Tag ein, was zwar mehr ist als bei Morus, angesichts des damals üblichen 14-Stunden-Tages aber bereits eine sichtliche Verbesserung darstellte (später forderte Owen dann den Acht-Stunden-Tag). In Edward Bellamys Looking Backward: 2000–1887 (1888) wiederum wird man bereits im Alter von 45 Jahren in Rente geschickt.

Das sind nur drei Beispiele, es liessen sich zahlreiche weitere anführen. – Wenn man die utopische Literatur als Indiz dafür nimmt, welche Vorstellungen sich die Menschen zu unterschiedlichen Zeiten von einem besseren Leben machten, dann scheint der Wunsch nach weniger Arbeit deutlich häufiger zu sein als der nach längeren Arbeitstagen.2

Die Sorge, dass wir dereinst zu wenig Arbeit haben, hat auch auf einer individuellen Ebene etwas Absurdes. Zumindest in meinem Umfeld höre ich andauernd, wie sehr die Leute überlastet sind, dass sie mit der schieren Menge an Arbeit kaum noch nachkommen. E-Mail und Mobiltelefone haben längst dazu geführt, dass die Arbeitszeit immer mehr in die Freizeit überschwappt, die Folgen kennen wir alle, der Burnout ist mittlerweile zur regelrechten Volkskrankheit geworden. Und da soll die Aussicht, dass weniger Arbeit auf mehr Leute verteilt werden muss, nicht erfreulich sein?

Obwohl ich alles andere als ein bedingungsloser Anhänger von Fredric Jameson bin, scheint mir in solchen Momenten seine Diagnose, dass wir schlicht unfähig sind, eine Alternative zum aktuellen (kapitalistischen) System zu denken, durchaus stichhaltig. Was Martin Ford in einem Buch als Rise of the Robots (interessant, wie da wieder das bedrohliche SF-Vokabular in Spiel kommt) bezeichnet, ist nur dann ein Problem, wenn wir auf Biegen und Brechen an der 40-Stunden-Woche festhalten. Aber dazu gibt es eigentlich keinen Grund. Ich habe «kapitalistisch» zu Beginn dieses Absatzes ganz bewusst in Klammern gesetzt, denn das Wirtschaftssystem hat mit der Frage der durchschnittlichen Arbeitszeit ja nichts zu tun. Zumindest wäre mir nicht bekannt, dass die freie Marktwirtschaft (oder wie immer man unsere Wirtschaftsordnung bezeichnen will) nur funktionieren kann, wenn jeder an fünf Tagen in der Woche acht Stunden arbeitet.

Die politische Entwicklung geht bei uns allerdings in eine andere Richtung. Zumindest in der westlichen Welt reden momentan alle davon, dass ein Anheben des Rentenalters angesichts des demographischen Wandels unausweichlich sei. Am Ende soll der Einzelne also noch mehr arbeiten. Wenn sich die Prognosen bewahrheiten und dereinst die Roboter übernehmen, wird diese Strategie kaum aufgehen. Wenn der Kuchen dauerhaft kleiner wird, muss er neu verteilt werden. Dann muss das Verhältnis von Lohn, Arbeitszeit und Lebenshaltungskosten so justiert werden, dass man zum Beispiel auch mit 20 Stunden Arbeit pro Woche leben kann.

Es wäre interessant, das mal durchzurechnen; zwar müssten bei so einem Modell die Löhne markant steigen, da die Menschen über viel mehr Freizeit verfügten, würde aber auch der Konsum zunehmen. Zugleich sollten dank Automatisierung auch die Herstellungskosten für Güter sinken. Einfach wäre der Übergang zu einem solchen System sicher nicht, aber die Aussicht auf ein Leben mit massiv weniger Arbeitszeit ist eigentlich sehr erfreulich. Die Utopien wissen das freilich schon lange.

Update: Die NZZ am Sonntag hat in der letzten Ausgabe ebenfalls einen Artikel zum Thema veröffentlicht. Der Autor ist zwar darum bemüht abzuwägen, letztlich ist der Text aber – wie das Meiste, was zum Thema veröffentlicht wird – wenig mehr als ein Mischung aus spektakulären Beispielen und viel Ungewissheit. Und einmal mehr wird das mögliche Ergebnis – weniger Arbeit für alle – nicht als Chance, sondern als Problem wahrgenommen. Immerhin wird erwähnt, dass der hier bereits genannte Martin Ford in seinem Buch ein Grundeinkommen fordert, um den drohenden Erwerbsausfall abzufedern.

In René Clairs À Nous la Liberté (1931) sind die Arbeiter dank einer vollautomatisierten Fabrik von jeglicher Arbeit befreit. Einen Umstand, den sie durchaus zu geniessen zu scheinen.
  1. In einem Paper der Bank of America Merril Lynch ist dieser Punkt deutlich offener formuliert: «The limiting case here would be general purpose robots that are effective substitutes for human labor but at a fraction of the cost. In that case, widespread unemployment could be an outcome – it depends on whether there develops a large enough sector in the economy where humans have a comparative advantage. This could be the arts and entertainment, or personal care services, or areas that involve deeper analytical thinking that is not amenable to existing forms of AI. The transitions from agriculture to manufacturing, and then manufacturing to services, were feared by some to result in mass unemployment. What happened instead is that some old jobs gradually disappeared as technological progress supplanted them, while new – often unanticipated – jobs arose in their place. This was not always ideal for individual workers, who may have found it very difficult or near impossible to make the kind of transitions needed to gain new work, but overall neither of these transitions caused a massive rise in unemployment. The same may well be true for the next transition.» Siehe dazu auch den Artikel von Steve Denning auf Forbes.com.[]
  2. Eine Ausnahme dürfte William Morris’ News from Nowhere darstellen. Da es bei Morris keine entfremdeten Tätigkeiten mehr gibt und jeder mit Inbrunst bei der Arbeit ist, ist der Unterschied zwischen Arbeit und Freizeit bis zu einem gewissen Grad aufgehoben.[]

Serien-Talk

Ab dem Ab 24. Januar zeigt der US-Sender Fox-TV neue Folgen von Chris Carters Mystery-Serie The X-Files. Aus diesem Anlass hat Radio SRF 2 Kultur eine Folge der Sendung Kontext dem Thema Fernsehserien gewidmet und meine Wenigkeit als Studiogast eingeladen. Ich parliere mit Ellinor Landmann und dem geschätzten Kollegen Michael Sennhauser über vergangenen und aktuelle Serienhits und darüber, warum ich als Kind von einer Baumstamm-Badewanne geträumt habe.

Evolution der Fernseh-Serien: Von Daktari zu Breaking Bad

 

Die Website der Sendung
 

Twin Peaks

Die Serie, die alles verändert hat: Twin Peaks

Das Jahr, das war

Zur Kategorie «Statistiken, die die Welt nicht braucht» gehört die folgende Auflistung aller Filme und Bücher, die ich mir im vergangenen Jahr zu Gemüte geführt habe. Natürlich fein säuberlich nach Kategorien geordnet.

Das erste Mal – Filmische Premieren

Im Folgenden sind alle Filme chronologisch aufgeführt, die ich 2015 zum ersten Mal gesehen. Wenn ich mich nicht verzählt habe, sind es insgesamt 73 Titel. Die Auswahl reicht dabei  von brandneuen Blockbustern wie Mad Max: Fury Road oder Star Wars: The Force Awakens bis zu filmhistorischen Stücken wie Marie-Louise oder The Jazz Singer (die übrigens beide nicht so schlecht waren wie befürchtet). Die meisten Filme habe ich leider nicht im Kino gesehen, sondern in meinen eigenen vier Wänden. Nicht aufgeführt sind Fernsehserien und – mit wenigen Ausnahmen – Kurzfilme. Die filmischen Highlights waren wohl Inside Out und Mad Max: Fury Road.

Mad Max: Fury Road

Mad Max: Fury Road

Im Keller, Ulrich Seidl, AT 2014.

Christian Schocher, Filmemacher, Marcel Bächtiger und Andreas Mueller, CH 2015.

Das dunkle Gen, Miriam Jakobs und Gerhard Schick, DE/CH 2014.

The Jazz Singer, Alan Crosland, USA 1927 (siehe dazu Wie die Juden Hollywood erfanden).

John Wick, Chad Stahelski, USA 2014.

Driften, Karim Patwa, CH 2015.

The Interview, Evan Goldberg und Seth Rogen, USA 2014.

Wild Tales, Damián Szifrón, AR/ES 2014.

Austin Powers: International Man of MysteryJay Roach, USA/DE 1997.

Jupiter Ascending, Andy und Lana Wachowski, USA/AU 2015.

Adieu au langage, Jean-Luc Godard, CH/FR 2014.

Everything or Nothing: The Untold Story of 007, Stevan Riley, GB 2014.

Birdman or (The Unexpected Virtue of Ignorance), Alejandro G. Iñárritu, USA 2014.

Predestination, Michael und Peter Spierig, AU 2014.

Divergent, Neil Burger, USA 2014.

Insurgent, Robert Schwentke, USA 2015.

Kingsman: The Secret Service, Matthew Vaughn, GB 2014.

Ex Machina, Alex Garland, GB 2015 (siehe meine Rezension).

Une nouvelle amie, François Ozon, FR 2014.

Avengers: Age of Ultron, Joss Whedon, USA 2015 (siehe meine Rezension).

Bouboule, Bruno Deville, BE/CH 2014.

Das ewige Leben, Wolfgang Murnberger, AT 2015.

Mad Max: Fury Road, George Miller, AU/USA 2015.

Tomorrowland, Brad Bird, USA/ES 2015 (siehe diesen und diesen Blogeintrag).

Freak Out!, Carl Javér, NO/DE/DK/SE/GB/USA/CH/AT 2014.

Jurassic World, Colin Trevorrow, USA 2015.

Terminator Genisys, Alan Taylor, USA 2015.

The Visit, Michael Madsen, DK/AT/IR/FI/NO/SE/NL 2015 (siehe meinen Text für das Programmheft des Filmpodiums).

Into Eternity: A Film for the Future, Michael Madsen, DK/FI/SE/IT 2010.

Mission: Impossible – Rogue Nation, Christopher McQuarrie, USA 2015 (siehe meine Rezension).

Utopia, John Pilger, GB 2013.

Atlas Shrugged Part I, Paul Johansson, USA 2011.

My Dinner with André, Louis Malle, USA 1981.

Birth, Jonathan Glazer, USA/GB/DE/FR 2004.

CQ, Roman Coppola, USA/LU/FR/IT.

Thief, Michael Mann, USA 1981.

Ich seh, ich seh, Severin Fiala, Veronika Franz, AT 2014 (siehe meine Spoiler-Kolumne).

The Wolfpack, Crystal Moselle, USA 2015 (siehe meine Rezension).

Inside Out, Pete Docter, Ronnie Del Carmen, USA 2015.

The Time Traveler’s Wife, Robert Schwentke, USA 2009.

Legend, Ridley Scott, USA/GB 1985.

Antonia’s Line, Marleen Gorris, NL/BE/GB/FR 1995.

Dürrenmatt: Eine Liebesgeschichte, Sabine Gisiger, CH 2015 (siehe Der Dichter und seine Frau).

Marie-Louise, Leopold Lindtberg, CH 1944 (siehe Wie Dutti den Oscar gewann).

Wednesday, May 9, Vahid Jalilvand, IR 2015.

Fish & Cat, Shahram Mokri, IR 2013.

Incendies, Denis Villeneuve, CA 2010.

The Martian, Ridley Scott, USA/GB 2015.

The Zero Theorem, Terry Gilliam, GB/RO/FR/USA 2013.

Black Mass, Scott Cooper, USA/GB 2015.

Spectre, Sam Mendes, GB/USA 2015 (siehe meine Rezension).

Meteor, Christoph Girardet und Matthias Müller, DE 2011.

Afronauts, Frances Bodomo, USA 2014.

Swiss Made, Fredi M. Murer, CH 1968.

Keeping the Faith, Edward Norton, USA 2000.

Enemy of the State, Tony Scott, USA 1998.

Heimatland, Lisa Blatter, Gregor Frei, Benny Jaberg, Carmen Jaquier, Jonas Meier, Tobias Nölle, Lionel Rupp, Mike Scheiwiller, Jan Gassmann, Michael Krummenacher, CH 2015.

The Driller Killer, Abel Ferrara, USA 1979.

Hitchcock/Truffaut, Kent Jones, FR/USA 2015.

Köpek, Esen Isik, CH/TR 2015 (siehe Ein Hunde-Elend).

It Follows, David Robert Mitchell, USA 2014.

Projections of America, Peter Miller, DE/USA/FR 2014.

Legend, Brian Helgeland, GB/FR 2015 (siehe meine Rezension).

The Krays, Peter Medak, GB 1990.

Star Wars: The Force Awakens, J.J. Abrams, USA 2015 (siehe Die Macht der Nostalgie).

Point Break, Ericson Core, DE/CN/USA 2015.

The Revenant, Alejandro G. Iñárritu, USA 2015.

Schellen-Ursli, Xavier Koller, CH 2015.

The Hateful Eight, Quentin Tarantino, USA 2015.

Nichts passiert, Micha Lewinsky, CH 2015.

Rider Jack, This Lüscher, CH 2015.

Youth, Paolo Sorrentino, IT/FR/CH/GB 2015.

Reprisen

Die ersten Monate waren filmisch von meiner Recherche für einen Artikel zur James-Bond-Reihe geprägt, der dieses Jahr erscheinen sollte (gewissermassen eine Light-Version ist als Ikone des Zeitgeists in der Filmzeitschrift Frame erschienen). Ansonsten war – natürlich – Barry Lyndon wieder einmal ein alles andere überragendes Highlight.

Sean Connery

Der erste Auftritt des einzig wahren James Bond: Sean Connery in Dr. No.

Dr. No, Terence Young, GB 1962.

From Russia With Love, Terence Young, GB 1963.

Goldfinger, Guy Hamilton, GB 1965.

Thunderball, Terence Young, GB 1965.

You Only Live Twice, Lewis Gilbert, GB 1967.

On Her Majesty’s Secret Service, Peter Hunt, GB 1969.

Diamonds Are Forever, Guy Hamilton, GB 1971.

Live and Let Die, Guy Hamilton, GB 1973.

The Man with the Golden Gun, Guy Hamilton, GB 1974.

When Harry Met Sally…, Rob Reiner, USA 1989.

The Spy Who Loved Me, Lewis Gilbert, GB 1977.

Moonraker, Lewis Gilbert, GB/FR/USA 1979.

For Your Eyes Only, John Glen, GB/USA 1981.

Octopussy, John Glen, GB/USA 1983.

Never Say Never Again, Irvin Kershner, GB/USA/DE 1983.

A View to a Kill, John Glen, GB/USA 1985.

The Living Daylights, John Glen, GB/USA 1987.

Under the Skin, Jonathan Glazer, GB/USA/CH, 2013.

Terminator 2: Judgment Day, James Cameron, USA/FR 1991.

Spartacus, Stanley Kubrick, USA 1960.

The Terminator, James Cameron, GB/USA 1984.

Barry Lyndon, Stanley Kubrick, GB/USA/IR 1975.

Interstellar, Christopher Nolan, USA/GB 2014 (siehe Nachricht von Papi).

GoldenEye, Martin Campbell, GB/USA 1995.

Tomorrow Never Dies, Roger Spottiswoode, GB/USA 1997.

Les 400 coups, François Truffaut, FR 1959.

Mad Max, George Miller, AU 1979.

Mad Max 2: The Road Warrior, George Miller, AU 1981.

The World Is Not Enough, Michael Apted, GB/USA 1999.

Die Another Day, Lee Tamahori, GB/USA 2002.

Casino Royale, Martin Campbell, GB/CZ/USA/USA/DE/BS 2006.

Quantum of Solace, Marc Forster, GB/USA 2008.

Skyfall, Sam Mendes, GB/USA 2012.

True Lies, James Cameron, USA 1994.

Sexy Beast, Jonathan Glazer, GB/ES 2000.

Drive, Nicolas Winding Refn, USA 2011.

The Omega Man, Boris Sagal, USA 1971.

Johnny Guitar, Nicholas Ray, USA 1954.

There’s Something About Mary, Bobby und Peter Farrelly, USA 1998.

Back to the Future, Robert Zemeckis, USA 1985.

Back to the Future Part II, Robert Zemeckis, USA 1989.

Point Break, Kathryn Bigelow, USA/JP 1991.

Fargo, Joel und Ethan Coen, USA/GB 1996.

Love Actually, Richard Curtis, GB/USA/FR 2003.

23197269 375823899761

Literatur –

Belletristik

Allzu viele Romane habe ich 2015 nicht geschafft, und fast die Hälfte waren Teil meiner James-Bond-Recherchen. Die Highlights waren auf jeden Fall Michel Fabers Under the Skin (sehr anders als der grossartige Film von Jonathan Glazer, aber definitiv eine Entdeckung) sowie Kim Stanley Robinsons Aurora. Robinsons Roman ist nicht perfekt, aber ebenfalls lesenswert.

Ian Fleming: Casino Royale.

Ian Fleming: Live and Let Die.

Ian Fleming: Moonraker.

Ian Fleming: Diamonds Are Forever.

Faber, Michel: Under the Skin.

Leif Randt: Planet Magnon (siehe meine Rezension).

Ian Fleming: From Russia With Love.

Ian Fleming: Dr. No.

Kim Stanley Robinson: Aurora.

Morus, Thomas: Utopia. Aus dem Englischen übers. von Michael Siefener. Wiesebaden 2013 (siehe meine Rezension).

Samuel R. Delany: The Jewels of Aptor.

P.M.: Bolo’Bolo.

Niccolò Machiavelli: Der Fürst.

Dietmar Dath: Venus siegt.

Wissenschaftliche Literatur

Bei wissenschaftlicher Literatur gestaltet sich die Liste schwieriger, da ich – wie wohl die meisten Wissenschaftler – die wenigsten Bücher von vorne bis hinten durcharbeite. Die folgenden Titel habe ich aber alle mehr oder weniger komplett gelesen. Etwas vom Besten war dabei David Wittenbergs Studie zu Zeitreise-Erzählungen. Im Bereich Utopie war ich besonders von der Arbeit von Susanna Layh sowie dem Klassiker von Peter Kuon angetan.

Einige der folgenden Titel habe ich rezensiert; Links zu den Besprechungen folgen, sobald diese erschienen sind.

Werder, Peter R.: Utopien der Gegenwart. Zwischen Tradition, Fokussierung und Virtualität. Zürich 2009. → Amazon

Rohgalf, Jan: Jenseits der großen Erzählungen. Utopie und politischer Mythos in der Moderne und Spätmoderne. Mit einer Fallstudie zur globalisierungskritischen Bewegung. Wiesbaden 2015. → Amazon

Johnson, Steven: Everything Bad is Good for You. London 2006. → Amazon

Tietgen, Jörn: Die Idee des Ewigen Friedens in den politischen Utopien der Neuzeit. Analysen von Schrift und Film. Marburg 2005. → Amazon

Wittenberg, David: Time Travel. The Popular Philosophy of Narrative. New York 2013. → Amazon

Case, George: Calling Dr. Strangelove. The Anatomy and Influence of the Kubrick Masterpiece. Jefferson 2014. → Amazon

Kuon, Peter: Utopischer Entwurf und fiktionale Vermittlung. Studien zum Gattungswandel der literarischen Utopie zwischen Humanismus und Frühaufklärung. Heidelberg 1986. → Amazon

Layh, Susanna: Finstere neue Welten. Gattungsparadigmatische Transformationen der literarischen Utopie und Dystopie. Würzburg 2014. → Amazon

Schmid, Sonja: Im Netz der Filmgenres. The Lord of the Rings und die Geschichtsschreibung des Fantasygenres. Marburg 2014. → Amazon (siehe meine Rezension).

Chapman, James: Licence to Thrill. A Cultural History of the James Bond Films. 2. Aufl. London/New York 2007. → Amazon

Stoppe, Sebastian: Unterwegs zu neuen Welten. Star Trek als politische Utopie. Darmstadt 2014. → Amazon

Fritzsche, Sonja (Hg.): The Liverpool Companion to World Science Fiction Film. Liverpool 2014. → Amazon (siehe meine Rezension)

Gabler, Neal: An Empire of Their Own: How the Jews Invented Hollywood. New York 1988. → Amazon

13796990Finstere Welten von Susanna Layh36085

Tagungsankündigung: Things to Come (21.–23. Januar 2016)

In knapp drei Wochen findet die Tagung Things to Come. Science ∙ Fiction ∙ Film statt. Die Tagung wird von der Deutschen Kinemathek und dem Einstein Forum organisiert und findet in Berlin und Potsdam statt. Die Tagungsankündigung sagt Folgendes zum Thema:

Das Bild, das wir uns von der Zukunft machen, buchstäblich und im übertragenen Sinne, ist fest in unserer Gegenwart verankert. Es spielt mit unseren Erwartungen und Zweifeln, Hoffnungen und Ängsten. Längst haben sich die einst utopischen Weltentwürfe aber in überwiegend dystopische verwandelt: Das zeigt sich vor allem auch in der erneuten Konjunktur von filmischen Zukunftsvisionen. Sie entfalten, ob im All oder auf der Erde, Überwachungsszenarien, Gesundheitsdiktaturen, ökologische Katastrophen oder gleich postapokalyptische Landschaften. Es geht dabei nicht nur um technische und wissenschaftliche Entwicklungen, sondern auch darum, wie der Mensch von morgen und die Gesellschaft der Zukunft aussehen werden. Science Fiction, als populäres Genre entstanden, ist zu einem philosophischen Feld imaginärer Experimente geworden: Was werden wir wissen? Wie sollen wir mit diesem Wissen umgehen? Wie wollen wir leben? Was wird ein Mensch sein?

Obwohl es um Spielfilme geht, pass das Tagungsthema passt natürlich sehr gut zu meiner aktuellen Beschäftigung mit Utopien. Mein Vortrag, den ich am Morgen des 22. Januars halten werden, trägt den Titel Tomorrowland ist abgebrannt. Das Problem der positiven Zukunft in der Science Fiction. Aufmerksame Leser dieses Blogs können sich wahrscheinlich schon ungefähr vorstellen, um was es gehen wird. Anhand von Brad Birds wunderbar verkorkstem Film Tomorrowland, über den ich hier bereits geschrieben habe (siehe diesen und diesen Eintrag), werde ich ein paar Überlegungen zu Science Fiction, Film und positiven Zukunftsentwürfen anstellen

Sieht so die Zukunft aus?

Sieht so die Zukunft aus?

Das übrige Tagungsprogramm sieht viel versprechend aus; die Vortragenden sind sowohl was die geographische wie auch die fachliche Herkunft betrifft, bunt gemischt. Es verspricht eine interessante Veranstaltung zu werden, auf die ich mich sehr freue.

Die Website der Tagung und die Tagungsbroschüre als PDF.

 

Die Macht der Nostalgie

Der jüngsten Star-Wars-Episode wurde schon viel, sehr viel Tinte, Druckerschwärze und Bits gewidmet. Etwas Neues zum Film selbst lässt sich kaum noch sagen. Dieser Blogeintrag ist deshalb auch nicht als  Kritik im eigentlichen Sinne gedacht, vielmehr möchte anhand des Films über gewisse Entwicklungen in der Rezeption und Vermarktung von Blockbustern nachdenken.

John Boyega

Von wegen keine Neuerungen: Es gibt einen schwarzen Stormtrooper,

Vorausgeschickt sei, dass ich mich nie wirklich für Star Wars begeistern konnte. Das mag damit zusammen hängen, dass ich relativ spät in den Genuss der Filme kam. Tatsächlich bin ich noch nicht einmal sicher, wann ich die drei Urfilme zum ersten Mal gesehen habe, was bereits illustrieren dürfte, wie wenig sie mich beeindruckt haben. Wenn Fans davon schwärmen, wie sie als Kinder von Star Wars verzaubert wurden, wie sehr sie die magisch-naive Art der Filme lieben, dann kann ich dazu nicht allzu viel sagen. Kommt hinzu, dass mir einige Formen des gemeinen Fantums ohnehin ziemlich fremd sind. So geht mir die für Fans typische Sammel- und Komplettheitswut, die dazu führt, dass man alles liest, sammelt und weiss, was zu einem bestimmten fiktionalen Kosmos gehört, weitgehend ab.

Im All nichts Neues

Ich bin somit alles andere als der ideale Star-Wars-Zuschauer. Umso interessanter finde ich es zu beobachten, wie in SF-Foren sowie in sozialen und anderen Medien über den Film gesprochen wird. Besonders auffällig ist dabei, welche Ausmasse die Spoiler-Panik im Falle von The Force Awakens angenommen hat. Mittlerweile wird man als Filmjournalist sogar vom Verleiher dazu angehalten, auf Spoiler in der Berichterstattung zu verzichten. Seltsamerweise scheint dies just bei den Filmen zu geschehen, bei denen es ohnehin wenig bis nichts zu spoilern gibt; so etwa jüngst bei Spectre und eben The Force Awakens.1 Mir ist sowieso nicht ganz klar, warum so viele Leute der Meinung sind, die Qualität eines Filmerlebnisses hänge primär davon ab, dass man von der Geschichte überrascht wird. Als ob ein Film nicht noch sehr viel anderes und vor allem mehr wäre als bloss der Plot.2 Im Falle von Mega-Blockbustern wie den jüngsten Abenteuern von James Bond respektive Luke Skywalker und Co. – ist mit der Nennung des Namens bereits etwas verraten? – wird das Spoiler-Getue aber regelrecht grotesk. Denn wenn diese Filme etwas nicht bieten, dann sind es Neuerungen auf inhaltlicher Ebene.

Daisy Ridley

Luke ist nun weiblich,

The Force Awakens – da scheinen sich Kritiker und Befürworter weitgehend einig – ist im Wesentlichen ein Neu-Arrangement von Elementen des ersten Star-Wars-Films von 1977. Ob man das nun Pastiche, Re-Interpretation oder Beinahe-Remake nennt – es kommt immer aufs Gleiche raus: Auf der Handlungsebene folgt J.J. Abrams dem Urfilm fast schon sklavisch. Was ich dabei faszinierend finde, ist, dass dies von vielen Fans nicht nur nicht abgelehnt, sondern vielmehr begrüsst wird. Bei The Force Awakens scheinen viele gängige Bewertungskriterien hinfällig zu werden: Originalität, Unstimmigkeiten im Plot, logische Fehler – alles egal. Was zählt, ist einzig, ob es dem Film gelingt, das sagenhafte Gefühl der Verzauberung von Anno dazumal hervorzurufen (dass damit der Plot und somit auch die Angst vor Spoilern weitgehend irrelevant wird, sei hier nur am Rande noch einmal erwähnt). Adam Roberts formuliert es mal wieder treffend:

They [the Star Wars fans] don’t want anything that deviates so far from the original template. Indeed, I’d go so far as to suggest that they’re not interested in the film as such. They are interested in recapturing a certain feeling they experienced once upon a time when watching another film.

Um was es in anderen Worten geht, ist Nostalgie.

Adam Driver

die neue Ausgabe von Darth Vader hat einen gepimpten Lightsaber,

Der wehmütige Blick zurück

Dass die Science Fiction – oder vielleicht eher das Dasein des SF-Fans – einen stark nostalgischen Zug besitzt,3 zeigt sich nicht erst seit Filmen wie Tomorrowland, die den hoffnungsvollen Blick in die Zukunft mit der Sehnsucht nach der eigenen Kindheit verwechseln (siehe dazu hier und hier). Die genretypische Nostalgie kommt auch in dem in SF-Kreisen oft zitierten Ausspruch «The Golden Age of science fiction is twelve» zum Ausdruck.4 Das im SF-Jargon gemeinhin als Sense of Wonder (Sow) bezeichnete Gefühl erhabener Ergriffenheit, das sich einstellt, wenn man von einer SF-Geschichte völlig in den Bann gezogen wird und sich mit einem Schlag ganze Welten eröffnen, ist eine typische Adoleszenz-Erfahrung. Ein nicht unwesentlicher Teil des Fan-Daseins kann als Versuch verstanden werden, diesem Initiationsmoment wieder nahe zu kommen. In Die Konstitution des Wunderbaren schreibe ich dazu:

Der SoW ist keine Empfindung, die alleine der SF vorbehalten wäre, wahrscheinlich steht er als Grunderfahrung am Beginn jeglicher Liebe zur Kunst – vielleicht sogar der Liebe überhaupt. Und wahrscheinlich erwächst aus ihm ebenso romantisierende Nostalgie wie jene bornierte Rückwärtsgewandtheit, die überzeugt ist, dass früher grundsätzlich alles besser war. Wenn dem so ist und wenn die SF, wie ich in dieser Studie versucht habe darzulegen, dank ihres Wesens und Funktionierens besonders dazu geeignet ist, den SoW zu erzeugen, dann scheint SF kein Modus des visionären Vorwärtsschauens zu sein, sondern vielmehr des wehmütigen Blicks zurück, zurück in jene Zeit, als die Zukunft noch jung war und alles möglich schien (333f.)

Zweifellos ist dies nicht die einzige Art und Weise, SF zu rezipieren, und natürlich gilt diese Beschreibung längst nicht für alle Fans. Aber wenn The Force Awakens etwas unter Beweis stellt, dann, wie stark dieses nostalgische Verlangen vielerorts offensichtlich ist.

BB-8

und der knuddlige Roboter ist noch knuddliger geworden.

Aus ökonomischer Perspektive ist bemerkenswert, wie sehr eine solche Rezeptionshaltung den Interessen der Unterhaltungsindustrie entgegenkommt. Vermarktungstechnisch sind Fans ohnehin eine attraktive Zielgruppe, da sie sich nicht nur die Filme ansehen, sondern auch Abnehmer für alle möglichen Arten von Merchandising und Tien-ins sind. Auch hierfür ist Star Wars das Lehrbuchbeispiel; George Lucas hat das moderne Merchandising zwar nich erfunden, er hat es aber auf eine neue Intensitätsstufe gehoben. Und wenn die Fans wie im Falle von Star Wars regelrecht danach verlangen, dass alles beim Alten bleibt, ist aus Sicht der Produzenten so etwas wie ein Idealzustand erreicht. Disney respektive J.J. Abrams müssen nicht einmal so tun, als würden sie etwas Neues erzählen. Dass sie sich weitgehend darauf beschränken, die altbekannte Geschichte zu rezyklieren, wird hier zum Qualitätsmerkmal. Der Blockbuster im Zeitalter seiner ewigen Reproduzierbarkeit.

Rian Johnson, der als Regisseur für Episode VIII vorgesehen ist, dürfte es allerdings schwerer haben als Abrams. The Force Awakens kam unter anderem das schlechte Image der zweiten Trilogie zugute. Der allgemeine Konsens lautet, dass George Lucas mit diesen Filmen dem Geist der ersten Trilogie untreu wurde,5 dass die ursprüngliche Magie abhanden kam. Nach dem neuen Film präsentiert sich die Situation nun anders; jetzt gibt es wieder einen Film, der sich richtig anfühlt, die Messlatte ist somit ungleich höher gesetzt. Zudem dürfte sich der Trick, den gleichen Film mit leichten Variationen noch einmal zu drehen, kaum wiederholen lassen, schliesslich muss die Geschichte von The Force Awakens ja weiter gehen und ein zweites The Empire Strikes Back dürfte trotz allem kaum machbar sein. Das wahre Pi­èce de Ré­sis­tance steht somit noch bevor.6

  1. Siehe zu Spectre meine Spoiler-Kolumne sowie meine Rezension.[]
  2. Stefan Höltgen bringt dies in einem Artikel auf Persepolis auf den Punkt: «Für einen Cineasten hingegen ist es traurig, dass Film dort, wo er erzählerisches Unterhaltungskino geworden ist, auf diese beiden Elemente reduziert wird: Auf das Sagen und Handeln der Protagonisten. Beides könnte aus dem Drehbuch herausgelesen werden und Film wäre damit nicht mehr als ein Roman (von dem man bekanntlich auch nicht allzu viel vorab verraten bekommen möchte). Die Misere des Experimentalfilms ist vor allem damit zu erklären, dass er nicht ‹erzählt› und damit nacherzählbar ist. Dass all die anderen ästhetischen Elemente eines Films in den Hintergrund geraten, hat sowohl Tradition als auch Kalkül: Über nichts von einem Film lässt sich ohne Fachkenntnisse besser sprechen als über den Plot, weshalb jeder Historiker ein passabler Film(plot)kritiker werden kann, wenn er Plots wie Quellen strukturieren und analysieren gelernt hat».[]
  3. Ja, ja, ich weiss: Star Wars ist gar nicht SF, sondern Fantasy, Märchen, Western, denn die Force, «a long time ago in a galaxy far far away», campbelsche Heldenreisen etc. etc. Dass die Fantasy-Elemente in Star Wars wichtig sind, ist offensichtlich. Ebenso offensichtlich ist aber auch, dass sich die Reihe einer SF-Ästhetik bedient. Innerhalb des Kontinuums zwischen SF und Fantasy liegt Star Wars ziemlich genau auf der Mitte und ist somit – wenn man den Begriff für sinnvoll hält – ein Paradebeispiel für Science Fantasy.[]
  4. Dieses Zitat wird oft David Hartwell zugeschrieben, scheint aber bedeutend älter. Anscheinend stammt es aus einem Artikel von Peter Graham, der 1957 in dem Fanzine Void erschien.[]
  5. Das Image von Lucas innerhalb der Star-Wars-Welt unterscheidet sich markant von dem anderer Saga-Begründer. Im Falle von Star Trek etwa lautet die gängige Formel, dass deren Erfinder Gene Roddenberry seine völkervereinende Vision mühsam gegen die Widerstände von einzig auf kommerziellen Erfolg ausgerichteten Managern durchsetzen musste. Alles, was einem an der Serie nicht passt, ist somit nicht Roddenberrys Fehler, sondern kann bösen Kräften angelastet werden. Dieses Muster ist im Fandiskurs oft anzutreffen: Es gibt eine mythische Frühphase, in der Autoren und Fans noch auf Augenhöhe miteinander verkehren und eine gemeinsame Vision teilen. Früher oder später setzt aber eine Degeneration ein, die geliebte Serie wird Mainstream, kommerzialisiert und büsst in den Augen der Fans essenzielle Qualitäten ein. Zu Star Wars will diese Erzählung freilich nicht recht passen. Zum einen hat Lucas wie kein anderer die Kommerzialisierung seiner Erfindung vorangetrieben; zum anderen zeichnet er selbst als Regisseur für die misslungene zweite Trilogie verantwortlich. Der Schöpfer selbst ist der dunklen Seite anheim gefallen und taugt damit nicht mehr als Bewahrer der ursprünglichen Werte. Diese Rolle kommt nun alleine den Fans zu. Siehe dazu auch Die Konstitution des Wunderbaren, S. 326–330.[]
  6. Siehe dazu auch den lesenswerten Artikel von Gerry Canavan der aufgrund eines Vergleichs mit Lord of the Rings zum Schluss kommt, dass die folgenden Star-Wars-Filme deutlich düsterer ausfallen könnten als The Force Awakens.[]