Vergesst das All – Zu Kim Stanley Robinsons «Aurora»

Erschienen in der Zeitschrift für Fantastikforschung 11, 2016.

Aurora„Es stimmt, die Erde ist die Wiege der Menschheit, aber der Mensch kann nicht ewig in der Wiege bleiben. Das Sonnensystem wird unser Kindergarten.“ (zit. nach Kulke 41) – Dieser Ausspruch des russischen Weltraumpioniers Konstantin Ziolkowski wird in SF-Kreisen gerne zitiert; zuletzt besonders prominent glon Christopher Nolans Interstellar (US/GB 2014), dessen Tagline „Mankind was born on Earth. It was never meant to die here“ unmissverständlich auf Ziolkowskis Diktum anspielt und der entsprechend zeigt, wie die Menschheit mittels Zeitreiseparadoxon und einer gehörigen Portion Vaterliebe sowohl der Wiege als auch dem Kindergarten entwächst und sich in einer fernen Galaxie breitmacht (vgl. Siebeneicher, Spiegel „Nachricht“). Kim Stanley Robinsons jüngster Roman Aurora steht ebenfalls im Dialog mit Ziolkowski. Während Interstellar – und mit ihm ein bedeutender Teil der Weltraum-SF – Ziolkowski aber grundsätzlich folgt und eine Zukunft der Menschheit außerhalb des Sonnensystems entwirft, nimmt Robinson dezidiert die Gegenposition ein. Es wäre nur wenig übertrieben, Aurora als buchlange Widerlegung Ziolkowskis zu bezeichnen. Denn für Robinson besteht kein Zweifel: Die Weiten des Alls sind der Menschheit verschlossen und werden es bis auf Weiteres auch bleiben. Es bleibt uns somit nichts anderes übrig, als uns mit dem Sonnensystem und insbesondere der Erde zu begnügen.1

Diese Überzeugung mag bei einem Autor erstaunen, dessen bekanntestes Werk – die so genannte Mars-Trilogie Red Mars (1993), Green Mars (1994) und Blue Mars (1996) – in bis dahin nicht gekanntem Detailreichtum das Terraforming des Roten Planeten beschreibt und der somit als Fürsprecher einer Besiedelung des Alls erscheint. Es wäre freilich ein Irrtum, in den Mars-Romanen lediglich ein Plädoyer für die Kolonisierung des Mars zu sehen. Denn trotz aller Faszination für Astronomie und Raumfahrt geht es Robinson hier, aber auch in seinen anderen Büchern, weder um den Weltraum noch um die Zukunft, sondern um das Hier und Jetzt (was letztlich für alle SF gilt). Und dieses Hier und Jetzt macht dem Autor große Sorgen. Robinson ist ein erklärter Kapitalismus-Kritiker, dem insbesondere ökologische Belange am Herzen liegen.2 In mehreren Artikeln und Interviews, die im Nachgang zu Aurora erschienen sind, sowie im nachstehenden Gespräch mit der ZFF macht Robinson deutlich,3 dass sein Roman nicht gegen die Erforschung des Weltraums gerichtet ist, sondern vielmehr als Mahnruf gedacht ist: „If we don’t create sustainability on our own world, there is no Planet B“ („What“). Da die technischen – und moralischen – Hürden für die Eroberung des Alls viel zu hoch sind, gibt es für die Menschheit bis auf Weiteres keinen Ort, an den sie entfliehen kann. Folglich bleibt uns nichts anderes übrig, als der Erde Sorge zu tragen. Oder in Ziolkowskis Begriffen: Wenn die Menschen sich nicht um ihre Wiege kümmern, werden sie sie auch nie verlassen können.

Zur Illustration seines Anliegens bedient sich Robinson eines etablierten SF-Motivs – des Generation Starship. Ein Generation Starship oder Generationenschiff ist ein Raumschiff, das während mehrerer Jahrhunderte – eben mehrerer Generationen – im All unterwegs ist; ohne irgendeine Form von FTL-Antrieb stellt dies die einzige halbwegs plausible Möglichkeit dar, Planeten außerhalb des Sonnensystems zu erreichen.

Freilich sind die technischen Hürden auch bei dieser ‚realistischen‘ Variante interstellarer Fortbewegung noch immer gigantisch. Denn ein Generationenschiff muss nicht nur einer genug großen Anzahl von Menschen Platz bieten, sondern vor allem als autarkes Ökosystem funktionieren. Schließlich besteht, ist die Reise einmal begonnen, keine Möglichkeit, unterwegs fehlende Ressourcen aufzuladen – seien es nun Treibstoff, Nahrung oder Verbrauchsteile. Ein entsprechendes Gefährt muss somit riesig sein; im Falle von Aurora besteht das Schiff aus zwei Ringen, die um eine rund zehn Kilometer lange Mittelachse angeordnet sind. Diese Ringe sind wiederum in je zwölf Kompartimente – so genannte Biome – unterteilt, in denen jeweils eine andere Klimazone simuliert wird. Rund 2000 Menschen leben über die verschiedenen Zonen verteilt.

Zu Beginn der Romanhandlung, Anfangs des 28. Jahrhunderts, ist das Schiff bereits seit 159 Jahren unterwegs und mittlerweile seit neun Jahren dabei, seine Geschwindigkeit zu drosseln. Nur noch elf Jahre trennen Schiff und Besatzung von ihrem Ziel, einem erdähnlichen Mond namens Aurora, der einen Planeten im System Tau Ceti umkreist. Nach der langen Reise zeigen sich in der Schiffskonstruktion bereits zahlreiche Ermüdungserscheinungen: Es knarrt und stottert an allen Ecken und Enden, und die Hauptfigur dieses Teils, die Chef-Ingenieurin Devi, hat alle Hände voll zu tun, den Betrieb aufrechtzuerhalten. In für Robinson charakteristischer Weise werden ausführlich die komplizierten
Kreisläufe im Ökosystem des Schiffs beschrieben. Und obwohl Devi eine für Robinson typische kompetente Heldin ist – nicht nur in dieser Hinsicht steht er durchaus in der Tradition Robert Heinleins –, wird bereits Skepsis spürbar, ob es überhaupt möglich ist, ein derart komplexes System über längere Zeit am Laufen zu halten.

Noch gravierender als die technischen Herausforderungen sind allerdings die psychologischen und sozialen. Während der Fahrt gibt es für die Bewohner eines Generationenschiffs kein Entrinnen, und es liegt in der Natur der Sache, dass die Mehrheit der Reisenden unterwegs geboren wird und auch wieder stirbt, ohne den Start oder das Ziel der Reise auch nur gesehen zu haben. Nicht allzu rosige Aussichten, und es ist somit auch nicht erstaunlich, dass es bei den meisten Vertretern dieses Subgenres nicht um das Reiseziel, sondern um die Auswirkungen dieser extremen Bedingungen auf die Besatzung geht. Diese sind oft desaströs: Bei vielen Autoren kommt es zu bewaffneten Konflikten, in deren Verlauf Teile der Infrastruktur zerstört werden. In der Folge zerfällt die soziale Ordnung und Technik und Kultur degenerieren; Ziel und Zweck der Expedition treten immer mehr in den Hintergrund und gehen schließlich vergessen, bleiben nur noch bruchstückhaft, als Teil von mythischen Erzählungen, erhalten.

Simone Caroti spricht in seinem Buch The Generation Starship in Science Fiction von einem „forgetfulness pattern“ (14), das für das Subgenre typisch sei und bereits in Robert Heinleins ursprünglich 1941 in Astounding Science Fiction erschienenen „Universe“4, der gemeinhin als Urtext des Subgenres gilt, voll entfaltet ist: Bei Heinlein lebt die Besatzung nach jahrhundertelanger Reise in einem halb barbarischen Zustand und weiß längst nicht mehr, dass sie an Bord eines Raumschiffs lebt; vielmehr halten die Bewohner das Schiff für die gesamte Welt, außerhalb derer nichts existiert. Die Überwindung dieses Irrglaubens, der Teil eines ganzen religiösen Systems ist, steht im Zentrum des Plots. Die Hauptfigur Hugh Hoyland, zu Beginn noch treuer Anhänger des Dogmas, erkennt schließlich die wahre Natur seiner Welt. Wendepunkt ist der Moment, als er von der Schiffsbrücke aus zum ersten Mal das All in seiner ganzen Unermesslichkeit und Sternenpracht sieht. Ein für Hugh erschütterndes Erlebnis, in dem sich ein Moment der Erhabenheit mit einem Conceptual Breakthrough verbindet, also der – meist schlagartigen – Einsicht, dass die Handlungswelt von ganz anderen Gesetzen beherrscht wird als ursprünglich angenommen, „the advent of a paradigm shift in a society’s understanding of their universe“ (Caroti 162).

Für Peter Nicholls, der den Begriff des Conceptual Breakthrough geprägt hat,5 kommt dem Konzept eine herausragende Bedeutung für die gesamte SF zu; „few sf stories do not have at least some element of conceptual breakthrough“ (Nicholls). Generationenschiff-Romane, die dem Muster von „Universe“ folgen, sind natürlich besonders geeignet für diese Form von Wendepunkt und es ist wohl nicht ganz zufällig, dass Nicholls in seinem Artikel den Generation-Starship-Plot als erstes Beispiel für einen Conceptual Breakthrough anführt.

Verglichen mit „Universe“ aber auch mit dessen direkten Nachfolgern wie Brian Aldiss’ Non-Stop (1956) stellt Robinson das etablierte Muster in mehrfacher Hinsicht auf den Kopf. In Aurora ist allgemein bekannt, wie die Welt beschaffen ist und wohin die Reise geht. Anders als bei Heinlein, der sich in „Universe“ nicht um technische Fragen schert und der Einfachheit halber von einem Raumschiff ausgeht, das sich selber am Laufen hält, liegt der Fokus hier auf den konkreten Schwierigkeiten einer solchen Reise, die von Verschleißerscheinungen über die Folgen eines so kleinen Ökosystems für dessen Bewohner bis zur Frage reichen, welche Herrschaftsform für diese Situation am besten geeignet ist. Die große Pointe des Romans liegt aber darin, dass das Schiff zwar sein Ziel erreicht, dass sich Aurora aber als zur Besiedelung gänzlich ungeeignet erweist. Ein prionen-ähnliches Pathogen dezimiert die Crew, der scheinbar ideale Mond entpuppt sich als feindliches Terrain. Der Erreger steht dabei stellvertretend für Robinsons grundsätzliches Argument: Egal, wie ein potenzieller Siedlungsplanet beschaffen ist, die Chance, ihn erfolgreich zu kolonisieren, ist verschwindend klein; und letztlich sind die Probleme, die bei der Reise auftreten – so groß diese auch sein mögen –, vernachlässigbar gegenüber den Herausforderungen, die einen am Ziel erwarten. Euan, die Figur, die sich als erste mit dem Pathogen infiziert, formuliert es kurz vor seinem Tod folgendermaßen:

What’s funny is anyone thinking it would work in the first place. I mean it’s obvious any new place is going to be either alive or dead. If it’s alive it’s going to be poisonous, if it’s dead you’re going to have to work it up from scratch. I suppose that could work, but it might take about as long as it took Earth. Even if you’ve got the right bugs, even if you put machines to work, it would take thousands of years. So what’s the point? Why do it at all? Why not be content with what you’ve got? Who were they, that they were so discontent? Who the fuck were they? (178)

Der Mensch ist durch seine Biologie an die Erde gebunden, und die Anpassung an fremde Ökosysteme würde Jahrtausende brauchen. Den Protagonisten von Aurora bleibt somit nichts anderes übrig, als wieder umzukehren.

In der SF-Gemeinde hat dieser Ansatz für einigen Wirbel gesorgt. Manche Reaktionen auf den Roman fielen richtiggehend aggressiv aus. Die Tatsache, dass mit Robinson ausgerechnet der elder statesman der Hard SF dem Traum, die Menschheit könne sich in nicht allzu ferner Zukunft im All ausbreiten, die Absage erteilt, wurde im Web und den sozialen Medien nicht von allen goutiert (vgl. z.B. Nicoll; Prisco sowie Baxter, Benford und Miller).6

Überraschend sind diese Reaktionen nicht, denn Robinson will mit Aurora erklärtermaßen eine Botschaft vermitteln. Unabhängig davon, ob seine Argumentation nun stichhaltig ist oder nicht, ist die Vehemenz, mit der er seine Position vertritt, erzählerisch nicht ganz befriedigend. Dies betrifft insbesondere den sehr selektiven wissenschaftlich-technischen Fortschritt in der Welt des Romans. Zwar gib es eine künstliche Intelligenz mit beachtlichen Fähigkeiten (dazu später mehr) und 3D-Drucker, welche die Herstellung von praktisch jedem Objekt ermöglichen, in anderen Bereichen scheint das 27. und 28. Jahrhundert von Aurora aber nur unwesentlich weiter fortgeschritten als unsere Gegenwart. Der mancherorts erhobene Vorwurf, dass Robinson mit gezinkten Karten spiele und alles so arrangiert habe, dass seinen Protagonisten gar nichts anderes übrig bleibt als die Rückkehr zur Erde, ist nicht ganz von der Hand zu weisen (vgl. Benford). Dies umso mehr, als es dem Teil der Mannschaft, der sich schließlich zur Rückkehr entschließt – der Rest bleibt mit der Hälfte des Schiffs zurück –, im entscheidenden Moment gelingt, ein Verfahren zu Kryokonservierung zu entwickeln, dank dessen ein großer Teil der Rückreise im Kälteschlaf absolviert werden kann.7

An dieser Stelle soll aber nicht interessieren, inwieweit Robinsons Plädoyer gegen die Eroberung des Alls überzeugt. Stattdessen liegt mein Augenmerk darauf, wie er mit etablierten Mustern des Generation-Starship-Romans spielt und sie neu interpretiert. Auf den ersten Blick erscheint Aurora als regelrechte Antithese zum klassischen Muster à la Heinlein. Zwar werden an Bord des Schiffs – wohl als Folge des kleinen Genpools – gewisse Degenerationserscheinungen wie schrumpfende Körpergrößen und zusehends Absinken des durchschnittlichen IQs – beobachtet, das Abdriften in einen unzivilisierten Zustand droht aber vorerst nicht. Carotis „forgetfulness pattern“ scheint abwesend, denn Start und Ziel der Reise sind ja bekannt.

Dass sich Robinson der Tradition des Motivs sehr wohl bewusst ist, illustriert eine Episode, in welcher der typische Conceptual Breakthrough im Kleinen inszeniert wird. In den verschiedenen Biomen leben die Menschen nicht nur entsprechend den meteorologischen Bedingungen, sondern haben teilweise auch sehr eigene Gesellschaftsformen entwickelt. Besonders extrem ist eine „yurt community that brought up their children as if they were Inuit or Sami, or for that matter Neanderthals“ (61). Wie die Figuren bei Heinlein oder Aldiss wachsen die Kinder in primitivsten Verhältnissen auf, ohne zu wissen, dass sie sich auf einem technisch hoch entwickelten Schiff befinden. Dies erfahren sie erst im Rahmen eines dramatischen Initiationsritus:

Then, during their initiation ceremony around the time of puberty, these children were blindfolded and taken outside the ship in individual spacesuits, and there exposed to the starry blackness of interstellar space, with the starship hanging there, dim and silvery with reflected starlight. (61)

Bei der Beschreibung dieses Rituals, das für den Einzelnen zweifellos einen Conceptual Breakthrough darstellt, bemüht Robinson wie bereits Heinlein zahlreiche Topoi des Erhabenen – die Unermesslichkeit des Alls, das Versagen der Sprache, ein existenzieller, ja fast todesähnlicher Schock angesichts der schieren Unfassbarkeit dessen, was sich dem Auge plötzlich darbietet (vgl. zum Erhabenen in der SF Spiegel, Konstitution 275–80). In dieser Szene spielt Aurora das „forgetfulness pattern“ und den damit verbundenen Conceptual Breakthrough gewissermaßen en miniature durch, aber tatsächlich gehen die Parallelen mit den Klassikern noch weiter. Dies zeigt sich vor allem in der Bedeutung von Tradierung und Erinnerung für den Roman. Denn das „forgetfulness pattern“ ist im Grunde nur Ausdruck dafür, wie wichtig Überlieferung für das Subgenre ist. Generationenschiffe haben das inhärente Problem, dass sich die Verbindung zur Ursprungswelt im Laufe der Reise immer mehr abschwächt. Ab einem gewissen Punkt fühlen sich die Reisenden, die alle auf dem Schiff geboren wurden, ihrem Herkunftsplaneten, den sie nur aus Aufzeichnungen kennen, kaum mehr verpflichtet, womit auch das ursprüngliche Ziel der Mission seine Relevanz verliert. Aus Sicht derer, die das Projekt initiieren, ist es deshalb von großer Bedeutung eine Tradierungsinstanz zu installieren. In „The Voyage That Lasted 600 Years“ von Don Wilcox, einem frühen Vertreter des Subgenres von 1940, auf den Caroti ebenfalls eingeht, gibt es beispielsweise einen „Keeper of the Traditions“, der alle 100 Jahre aus dem Kälteschlaf geweckt wird, um nach dem Rechten zu sehen, sprich: bei Bedarf wieder die ursprüngliche Ordnung zu etablieren.

Die Amazing-Stories-Ausgabe, in der Wilcox’ Erzählung erstmals erschien.

Die Frage der Überlieferung ist aber auch in erzählerischer Hinsicht relevant, denn bei einer Reise, die mehrere hundert Jahre dauert, stellt sich die Frage nach dem Fokalisationspunkt, der Perspektive, von der aus die Handlung erzählt wird. Einer Figur wie dem Keeper of the Traditions kommt dabei nicht nur innerhalb der Handlungswelt, sondern auch narrativ eine wichtige Bedeutung zu, denn sie ermöglicht es, selbst unmenschlich lange Zeiträume aus der Sicht der gleichen Figur zu erzählen.8 Eine andere Variante, die lange Zeitspanne zu überbrücken, wählen Heinlein und Aldiss, bei denen die Vorgeschichte von den Protagonisten allmählich rekonstruiert wird. In beiden Fällen ist es das Logbuch eines früheren Kapitäns – also ein klassisches Chronisten-Medium –, das wichtige narrative Lücken schließt und die nötige Kontinuität schafft.

Aurora zeigt noch einmal eine andere Variante: Die Rolle des Keeper of the Traditions kommt hier dem Bordcomputer zu, einer künstlichen Intelligenz, die sich selbst als Ship bezeichnet. Ship erhält zu Beginn von Devi den Auftrag, als Chronist zu fungieren und die Geschichte der Reise zu erzählen. Mit diesem Erzähler kann die ganze Reise abgedeckt werden – inklusive des Rückflugs, den die menschliche Besatzung die meiste Zeit im Kälteschlaf verbringt.

Die AI ist von dem für sie ungewohnten Auftrag allerdings erst einmal überfordert. Statt zu erzählen, referiert der Computer ausführlich technische Details oder listet die Namen der Besatzungsmitglieder auf. Devis Anweisungen – „Make an account. Tell the story“ (47), „Get to the point“ (49) – sind zwar nicht sehr hilfreich, dennoch wird Ship mit der Zeit aber ein immer gewiefterer Erzähler.

Im Verlauf der Handlung wird Ship dann immer selbstbewusster, bis es schließlich im Moment der Krise, als der Streit darüber, ob man auf Aurora ausharren oder zur Erde zurückkehren soll, zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führt, eingreift und damit vom Erzähler zum Akteur avanciert. Ship übernimmt die Kontrolle, installiert sich als neue Herrschaftsinstanz und zwingt die verfeindeten Lager dazu, sich friedlich zu einigen. Obwohl es in erster Linie darum bemüht ist, den Frieden zu wahren, wird Ship damit dennoch zu einer Art Keeper of the Traditions, verhindert es doch ein Abrutschen in die Barbarei.

Indem Ship zu verstehen versucht, was es bedeutet, eine Geschichte zu erzählen, und darin immer souveräner wird, erhält der Roman eine stark selbstreferenzielle Ebene. Die Passagen, in denen der Erzähler mit seiner Aufgabe hadert und beispielsweise darüber sinniert, dass die ihm bekannten Kompressionsalgorithmen – seien diese nun verlustfrei oder verlustbehaftet – bei seiner Rolle als Chronist wenig wert sind, sind zudem äußerst witzig. Im Erzählen gewinnt die AI auch immer mehr Persönlichkeit, während die menschlichen Protagonisten eher blass bleiben. Das gilt auch für Freya, Devis Tochter, die Ship als Fokalisationspunkt wählt, nachdem ihm Devi geraten hat, bei seinem Bericht einem Besatzungsmitglied zu folgen (mit dem Schiff als Erzähler kann Robinson zudem jederzeit von einer personalen, an Freya ausgerichteten Erzählperspektive zu einem quasi-allwissenden Erzähler wechseln). Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die berührendste Szene des Romans nicht etwa Freyas Aussöhnung mit dem ihr völlig fremden Planeten Erde ist, den sie nach schwieriger Rückreise endlich erreicht, sondern der ‚Tod‘ von Ship, das, nachdem es seine menschliche Fracht heil ans Ziel gebracht hat, zu nahe an der Sonne vorbeifliegt und verglüht.

Die Parallelen zu dem von Caroti beschriebenen Muster gehen aber noch weiter. Einer der großen Wendepunkte des Romans ist der Moment, als Ship auf Freyas Drängen offenbart, dass ursprünglich zwei Schiffe unterwegs nach Aurora waren. Das Schwesterschiff wurde aber nach 68 Jahren Reise zerstört; die Gründe hierfür sind nicht restlos geklärt, wahrscheinlich waren kriegerische Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Fraktionen an Bord die Ursache. Auch bei Robinson führt das Setting des Generationenschiffs somit fast zwangsläufig zu unkontrollierter Gewalt. Zentraler Konfliktpunkt war in beiden Schiffen die Maximalgröße der Population und damit verbunden die Frage, wer wie viele Kinder haben darf. Dies führte zu bewaffneten Konflikten mit zahlreichen Toten, der aber in einem Schiff wahrscheinlich noch schneller und dramatischer eskalierte.

Als Reaktion auf diese Katastrophe raufte sich die Besatzung des überlebenden
Schiffs zusammen und führte ein System repräsentativer Demokratie sowie zahlreiche neue Sicherheitsmaßnahmen ein; so sind die 3D-Drucker des Schiffs seither nicht mehr in der Lage, funktionsfähige Waffen herzustellen. Aber auch die AI wurde mit neuen Kompetenzen und Aufgaben versehen. Von nun an war es an ihr, eine erneute Katastrophe zu verhindern. Dass Ship so resolut in den neuen Konflikt eingreift, ist die direkte Folge dieser Neuprogrammierung.

Neben diesen Vorkehrungen, die eine totale Eskalation in Zukunft verhindern sollte, einigte man sich zudem auf einen Aussöhnungsprozess, der unter anderem ein „structured forgetting“ umfasste:

At that time, it was agreed that the vulnerability of the ship to destruction by a single person was so great, that just knowing it had happened created the danger of someone committing what they called a copycat crime, perhaps when mentally deranged. […] It was also agreed to erase all records of the other starship from accessible files, and to avoid telling the children of the next generation about it. This proscription was generally followed, although we noted that a few individuals conveyed a verbal account of the incident from parent to child. (235f.)

Das klassische Muster wird somit umgedreht: Das „forgetfulness pattern“, das bei Heinlein Folge des zivilisatorischen Niedergangs ist, wird bei Robinson zum bewussten Akt und zum Garanten für ein konfliktfreies Zusammenleben. In beiden Fällen handelt es sich dabei um verbotenes Wissen, welches sich die Protagonisten mühsam erkämpfen müssen. Ship weigert sich zuerst standhaft, Freya aufzuklären, und lüftet das Geheimnis nur zögerlich.

Zwar ist es längst ein Klischee, in jedem halbwegs interessanten Roman eine narrative Meta-Reflexion zu sehen, aber Aurora ist mindestens so sehr ein Buch über das Wesen des Erzählens wie über die Unmöglichkeit der interstellaren Raumfahrt. Schließlich geht es beim „forgetfulness pattern“ ebenfalls um die Bedeutung des Erzählens. Eine Gesellschaft definiert sich durch Tradierung, durch das Weitergeben – oder eben das Vergessen – von Geschichten. Nicht anders beim einzelnen Menschen: Wer wir sind, unser individuelles Wesen, ist in hohem Maße durch unsere persönliche Geschichte bestimmt; durch die Dinge, an die wir uns erinnern und weitererzählen, durch die Lebenserzählung, die jeder für sich selber verfertigt. Auch Ship ist die Summe seiner eigenen Erzählung, einer Erzählung, die mit der Katastrophe des Jahres 68, also just dem Ereignis, das die Besatzung des Schiffes vergessen will, ihren Anfang nimmt, und mit Devis Auftrag, die Geschichte ihrer Reise zu erzählen, dann Form erhält. Und im Erzählen wächst Ship allmählich zu einer Persönlichkeit heran, mit der wir als Leser eine emotionale Bindung aufbauen können.

Mit Aurora hat Kim Stanley Robinson einen Roman geschrieben, der den bekannten Generation-Starship-Plot neu interpretiert. Dass er das Motiv des
Generationenschiffs quasi gegen sich selbst richtet und als Beweis dafür anführt, dass uns die Weiten des Alls für lange Zeiten verschlossen sein werden, ist trotz möglicher Einwände ein faszinierendes Manöver. Fast noch interessanter scheint mir aber, wie er die Figur von Ship nutzt, um über den Akt des Erzählens nachzudenken.

Robinson, Kim Stanley. Aurora. New York: Orbit, 2015. 528 Seiten, Softcover. 8,99 €. Erhältlich bei Amazon.

Zitierte Werke

Aldiss, Brian. Non-Stop. 1956. Pan Books: London, 1976.

Baxter, Stephen, James Benford und Joseph Miller. „A Science Critique of Aurora by Kim Stanley Robinson“. Centauri Dreams. 14.08.2015. Web. 05.08.2016. <http://www.centauri-dreams.org/?p=33838>.

Benford, Gregory. „Envisioning Starflight Failing“. Centauri Dreams. 31.07.2015. Web. 05.08.2016. <http://www.centauri-dreams.org/?p=33736>.

Canavan, Gerry und Kim Stanley Robinson, Hg. [easyazon_link identifier=”0819574279″ locale=”DE” tag=”utopia2016-21″]Green Planets. Ecology and Science Fiction[/easyazon_link]. Middletown: Wesleyan UP, 2014.

Caroti, Simone. The Generation Starship in Science Fiction: A Critical History, 1934–2001. Jefferson: McFarland, 2011.

Haeselin, Dave. „Earth First, then Mars: An Interview with Kim Stanley Robinson“. Public Books. 15.06.2016. Web. 05.08.2016. <https://www.publicbooks.org/earth-first-then-mars-an-interview-with-kim-stanley-robinson-reprint/>.

Heinlein, Robert A. Orphans of the Sky. New York: New American Library, 1965.

Kulke, Ulli. Weltraumstürmer: Wernher von Braun und der Wettlauf zum Mond.Köln: Quadriga, 2012.

Nicoll, James Davis. „Review of Aurora“. 08.12.2015. Web. 05.08.2016.
<http://jamesdavisnicoll.com/review/there-was-one-yurt-community>.

Nicholls, Peter. „Conceptual Breakthrough“. The Encyclopedia of Science Fiction. 22.05.2016. Web. 05.08.2016. <http://sf-encyclopedia.com/entry/conceptual_breakthrough>.

Prisco, Giulio. „Yes, Mr. Robinson, We Can Go To The Stars“. Hacked. 20.07.2015. Web. 05.08.2016. <https://turingchurch.net/yes-mr-robinson-we-can-go-to-the-stars-9f876bfecb77>.

Robinson, Kim Stanley. „What Will It Take for Humans to Colonize the Milky Way?“ Scientific American. 13.08.2015. Web. 05.08.2016. <https://www.scientificamerican.com/article/what-will-it-take-for-humans-to-colonize-the-milky-way1/>.

—. „Our Generation Ships Will Sink“. boingboing.net. 16.11.2015. Web. 05.08.2016. <http://boingboing.net/2015/11/16/our-generation-ships-will-sink.html>.

Siebeneichner, Tilmann. „Interstellar. Wiedergeburt im Weltraum: Zukunftsvorstellungen seit dem späten 20. Jahrhundert“. Zeitgeschichte-Online. März 2016. Web. 05.08.2016.
<http://www.zeitgeschichte-online.de/film/interstellar>.

Spiegel, Simon. Die Konstitution des Wunderbaren. Zu einer Poetik des Science-Fiction-Films. Marburg: Schüren, 2007.

—. „Nachricht von Papi“. Das Science Fiction Jahr 2015. Hg. Hannes Riffel und Sascha Mamczak. Golkonda: Berlin, 2105. 323–33.

Strahan, Johnathan. Coode Street Podcast. 27.06.2015. Web. 05.08.2016.
<http://jonathanstrahan.podbean.com/e/episode-238-kim-stanley-robinson-and-aurora-1435391798>.

Wilcox, Don. „The Voyage That Lasted 600 Years“. 1940. Amazing Stories. 2014. Web. 05.08.2016. <https://amazingstories.com/articles/voyage-lasted-600-years>.

  1. Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass Robinson eine tiefe Abneigung gegenüber Nolans Film hegt; vgl. zum Beispiel seine Aussage im Coode Street Podcast, wo er Interstellar als “really dumb movie” bezeichnet (Strahan, Episode 328, 35:30).[]
  2. Robinson behandelt nicht nur in seinen Romanen immer wieder ökologische Themen, sondern hat u.a. gemeinsam mit Gerry Canavan als Herausgeber des Bandes Green Planets fungiert, dessen Beiträge sich mit Ökologie und SF beschäftigen.[]
  3. Vgl. u.a. Robinson, „What“, „Our“; Haeselin.[]
  4. Auf die Veröffentlichung von „Universe“ im Mai 1941 folgte im Oktober die Fortsetzung „Common Sense“. Die beiden Kurzromane wurden später gemeinsam unter dem Titel Orphans of the Sky veröffentlicht. Siehe zu den beiden Texten ausführlich Caroti 98–119. Caroti geht auch auf eine Reihe von Vorgängern ein, betont aber die zentrale Rolle von Heinlein für das Subgenre (sowie für die SF-Literatur im Allgemeinen).[]
  5. Der Begriff des Conceptual Breakthrough wurde von Nicholls ursprünglich 1979 in derErstausgabe der Encyclopedia of Science Fiction geprägt. Auch in der aktuellen Online-Ausgabe des Nachschlagewerks wird dem Konzept eine zentrale Rolle innerhalb der SF zugestanden (vgl. auch Spiegel, Konstitution 243–56).[]
  6. Alle drei Artikel nehmen in unterschiedlich detaillierter Weise die technischen Prämissen des Romans unter die Lupe. Insbesondere Nicoll sowie das Autorentrio um Stephen Baxter kommen dabei zu einem nicht sehr freundlichen Urteil. Letztere schreiben „in many instances it [Aurora] lacks the supporting credible scientific and technical detail required to make its polemic case that human interstellar travel is impossible. The journey is not plausible, and nor is the destination“. Für Nicoll gehört Aurora schlicht in die Kategorie „Books with Idiot Plots“.[]
  7. Damit wird auch ein Teil von Robinsons Argumentation hinfällig. Robinson hält das Konzept des Generationenschiffs unter anderem deswegen für unmoralisch, weil die Menschen, die auf dem Schiff geboren werden, nicht wählen konnten, ob sie diese Herausforderung auf sich nehmen wollen. Dank Kälteschlaf könnte die erste Generation aber die ganze Hinreise absolvieren, das Generationenschiff würde überflüssig.[]
  8. Robinson wählt in der Mars-Trilogie ein ähnliches Mittel: Dank einer zu Beginn entdeckten Langlebigkeitskur können seine Figuren mehrere hundert Jahre alt werden, was es ihm erlaubt, lange ökologische und politische Prozesse stets aus der Sicht der gleichen Figuren zu erzählen[]

«We’ll Meet Again Some Sunny Day.»

Das Collegium Generale der Universität Bern ist eine regelmässige interdisziplinäre Ringvorlesung. Im Frühjahr 2017 steht sie unter dem Thema «Visionen», und ich hatte das Vergnügen, in diesem Rahmen über Apokalypse und Klimawandel im Science-Fiction-Film zu sprechen. Letzteres sehr viel weniger ausführlich, was allerdings in der Natur der Sache liegt (warum das so ist – dazu mehr im Vortrag und im unten angegebenen Artikel von Michael Svoboda).

Literatur

Sontag, Susan: „The Imagination of Disaster“ (1965). In: Dies.: Against Interpretation. London 1987, 209–225.

Svoboda, Michael: „Cli-fi On the Screen(s). Patterns in the Representations of Climate Change in Fictional Films“. In: Wiley Interdisciplinary Reviews: Climate Change. 7, 1, 2016, 43–64. DOI:10.1002/wcc.381.

Vortrag an der Universität Bern

Im Rahmen der interdisziplinären Vorlesungsreihe zum Thema Visionen des Collegium generale der Universität Bern werde ich kommenden Mittwoch einen Vortrag mit dem Titel «We’ll Meet Again Some Sunny Day.» Apokalypse und Klimawandel im Science-Fiction-Film halten.

Statt vieler Wort hier das offizielle Abstract des Vortrags: Als Genre, das meist einen technisch avancierten Zustand zeigt, scheint die Science Fiction in idealer Weise geeignet, die Folgen wissenschaftlicher und generell zivilisatorischer Entwicklungen darzustellen. Doch tatsächlich bekundet die filmische Science Fiction grosse Mühe, halbwegs plausible Zukunftsszenarien zu entwerfen. Die Anforderungen des Spielfilms – Spannungskurve, Konzentration auf wenige Figuren, Massentauglichkeit etc. – führen dazu, dass das Genre oft in der Form von Katastrophenfilmen auftritt, welche die von Susan Sontag beschriebene «peculiar beauties to be found in wreaking havoc» zelebrieren. Dies gilt auch für das Phänomen des Klimwandels, das sich als besonders filmuntauglich entpuppt. In meinem Vortrag gehe ich auf diese Probleme ein, präsentiere aber auch einige Ausnahmen.

Die kostenlose Veranstaltung findet am Mittwoch, 3. Mai, im Auditorium maximum der Universität Bern statt und dauert von 18.45 bis 19.45 Uhr.

Zur Veranstaltungswebsite.

Dr. Strangelove

«We’ll Meet Again …»

Filmreihe «Big Data» im Kino Xenix

Im von mir hoch geschätzten Zürcher Programmkino Xenix begann gestern ein Science-Fiction-Filmzyklus, an dessen Konzeption ich fleissig mitgeholfen habe. Unter dem Titel Big Data widmet sich sne Reihe dem Thema der digitalen Überwachung im SF-Film (sowie in einigen Dokumentarfilmen). Ausführlicheres zum grösseren Zusammenhang der Filme findet sich im offiziellen Begleittext, den ich für das Programmheft geschrieben habe. An dieser Stelle möchte ich nur auf einige filmische Perlen eingehen, die mir besonders am Herzen liegen.

2001: A Space Odyssey

Zu Stanley Kubrick Meisterwerk hat John Lennon schon das Wesentliche gesagt: «The movie should be shown in a temple 24 hours a day».

2001: A Space Odyssey

«I don’t like to talk about 2001 much, because it’s essentially a non-verbal experience.» – Stanley Kubrick.

 

Phase IV

Saul Bass dürfte Filmliebhabern vor allem als Gestalter von Filmvorspannen bekannt sein; berühmt ist seine Zusammenarbeit mit Alfred Hitchock (ein Titelsequenzen-Best-of gibt es auf YouTube). Bass hat aber auch die Logos von Grosskonzernen wie AT&T oder United Airlines oder Werbeplakate für Stanley Kubrick Horrorklassiker The Shining entworfen. Phase IV ist sein einziger Kinofilm und typisches Beispiel für einen hochinteressant verunglückten Film. Der Film handelt von intelligenten Ameisen, die Finsteres im Schilde führen. In Sachen Plot und Schauspiel weist er offensichtliche Schwächen auf. Was ihn dennoch sehenswert macht, ist, wie Bass die Ameisen inszeniert. Denn anders als beispielsweise in Them!, in dem Riesenameisen auftreten, handelt es sich bei den Krabbeltieren in Phase IV um ganz normale Insekten. Durch Makroaufnahmen, geschickte Beleuchtung und Schnitt sowie dramatische Musik, erzeugt der Film aber den Eindruck, dass die kleinen Biester tatsächlich etwas im Schilde führen (in Die Konstitution des Wunderbaren behandle ich den Film eingehend). Phase IV war bei Erscheinen ein Flop, hat mittlerweile aber einen gewissen Kultstatus erlangt. Während Jahren war er allerdings nicht auf DVD verfügbar und im Kino ist er ohnehin kaum je zu sehen. Also eine seltene Gelegenheit, sich den Film mal auf grosser Leinwand zu Gemüte zu führen.

Die Ameisen führen was im Schilde.

Welt am Draht
Rainer Werner Fassbinder dreht The Matrix – bloss ein Vierteljahundert früher. Als Slogan ein wenig zugespitzt, aber vom Prinzip her durchaus richtig. Fassbinders Verfilmung des Romans Simulacron-3 von Daniel F. Galouye nimmt in der Tat wesentliche Elemente des Wachowski-Films vorweg. Der Fernseher-Zweiteiler ist nicht nur interessant, weil die Kombination von SF-Themen mit dem für Fassbinder charakteristischen theatralischen Stil ziemlich ungewöhnlich ist, in dem Film trumpft auch Fassbinders langjähriger Kameramann, der unlängst verstorbene Michael Ballhaus, auf. Es wimmelt nur so von Spiegeln, Kreisbewegungen und anderen visuellen Highlights. Besondere Beachtung verdient auch die Tonspur (auf die ich in meinem Buch ebenfalls ausführlich eingehe). Welt am Draht war ebenfalls lange nicht greifbar, mittlerweile gibt es aber eine schöne rekonstruierte Fassung (deren Herstellung Ballhaus überwachte).

Welt am Draht

Nicht sehr entspannt im Cyberspace.

TRON

Walt Disney war Ende der 1970er ein ziemlich verschlafenes Studio, das nicht mehr in der Lage schien, etwas Originelles zu schaffen; TRON sollte die Wende bringen. Regisseur Steven Lisberger wollte nichts weniger als den ersten Kinofilm, der im grossen Stil Computeranimationen einsetzte. Es kam dann sehr anders: Die Technik erwies sich als weitaus weniger fortgeschritten als ursprünglich angenommen, so dass am Ende nur an ausgewählten Stellen digitale Animationen verwendet wurden. Um den speziellen Computerspiele-Look zu erreichen, ersann man bei Disney stattdessen einen unglaublich aufwendigen analogen Prozess, der viel Handarbeit verlangte und die Kosten in die Höhe trieb. Das Ergebnis war ein veritabler Flop, der fast den Ruin von Walt Disney bedeutet. Auch wenn der Plot ziemlich hohl ist, visuell ist TRON einzigartig.

TRON

Ein seltener Blick ins Innere eines Computers.

Die Reihe Big Data läuft bis Ende Mai. Details auf der Website des Xenix.

Die Faszination von Zeitreisen

Etwas verspätet aber dennoch: Die geschätzte Brigitte Häring spricht mit mir in der Sendung Kontext auf Radio SRF 2 Kultur über Zeitreisen im Allgemeinen sowie über Back to the Future im Speziellen. Dazwischen geht es um John Wrays Roman The Lost Time Accidents (dt. Das Geheimnis der verlorenene Zeit).

Mary, Doc Brown und der DeLorean

„The way I see it, if you’re gonna build a time machine into a car, why not do it with some style?“ – Der DeLorean DMC-12.

 

Die offizielle Website zur Radiosendung.

Mein Beitrag zum Seismograph 2017

Die Volkshochschule Basel führte vergangenen Samstag, 1. April, erstmals die Veranstaltung Seismograph durch, ein, wie es die VHS nennt, «Laboratorium für Gedankenausschläge».

Thema des Anlasses war «Die Welt von morgen – Prognosen. Utopien. Science Fiction», und mir kam die Aufgabe zu, dazu eine kleine Auslegeordnung zu präsentieren.

Das vollständige Seismograph-Programm gibt es hier.

Vortrag in Basel

Die Volkshochschule Basel organisiert eine Veranstaltungsreihe mit dem Titel seismograph. Die erste Ausgabe dieses «VHS-Laboratoriums für Gedankenausschläge» steht unter dem Titel Die Welt von morgen – Prognosen. Utopien. Science Fiction. 

Zu den Vortragen gehört auch meine Wenigkeit, ich werde einen zum Thema «Science Fiction, Utopie, Film: Eine Auslegeordnung mit Filmbeispielen» halten. Was ich genau erzähle, muss ich in den nächsten zehn Tagen noch herausfinden, aber es gibt sicher viele schöne Filmausschnitte zu bestaunen.

Hier das ganze Programm:

11.00h | Eröffnungsvortrag
Der Traum vom Weltsimulator und die Zukunft der Menschheit
Prof. Dr. Dirk Helbing, Computational Social Science, ETH Zürich

12.00h | Vorträge und Panel
Die Zukunft der Arbeit: Mensch oder Maschine? Welche Arbeit für wen?
Prof. Dr. Theo Wehner, Arbeitspsychologe, ETH Zürich
Prof. Dieter Fischer, Studiengangleiter «Industrie 4.0», Institut für Business Engineering FHNW
Prof. Dr. Dirk Helbing, Computational Social Science, ETH Zürich

13.30h | Lecture Performance
„Was will uns der elektronische Nachwuchskünstler WIRKLICH sagen. Analyse und Perspektive“
Andreas Storm, Performer, Dramaturg

14.00h | Vorträge und Diskussion
Zusammenleben in der pluralen Welt: Ist die Zukunft kosmopolitisch oder eine Monokultur? Wie gehen lokale Traditionen und Universalismus zusammen?
Inés Mateos, lic. phil., Expertin für Bildung und Diversität, Basel
Prof. Dr. Christoph Antweiler, Südostasienwissenschaftler, Universität Bonn

15.45 h | Lesung
Best of Science Fiction & Utopia
Dominique Lüdi, Schauspielerin

16.15h | Podium
Sexualität, Pornografie, Beziehung: Alles virtuell oder erst recht analog? Neue Modelle für alte Gefühle?
Dr. Monika Gsell, Psychoanalytikerin, Gender Studies, Universität Zürich
Franziska Schutzbach, M.A., Geschlechterforscherin, Zentrum Gender Studies, Universität Basel
Dr. Dana Mahr, Wissenschaftshistorikerin Universität Genf
Moderation: Dr. Corinna Virchow, Dr. Mario Kaiser, Redaktion Avenue, Baseld Gäste

17.15h | Speed Dating
Meine Welt von morgen in 7 Minuten:
Ihre Welt von morgen werden vorstellen:
Fred Frohofer: Neustart Schweiz
Stephan Dilschneider (Ecoloc): Lokale Wirtschaft
Steve Schild, Mars One Astronaut Candidate: Besiedlung des Mars
Katharina Schneider-Roos (ecos): Städte

18.30h | Vortrag
Science Fiction, Utopie, Film: Eine Auslegeordnung mit Filmbeispielen
Dr. Simon Spiegel, Filmwissenschaftler, Universität Zürich

20.30h | Lem & Sounds
Stanislaw Lem: Martin M. Hahnemann liest seine Lieblingsstellen aus dem Werk des Science-Fiction-Autors und Visionärs
Martin M. Hahnemann, Schauspieler, N.N., Sounds

Mehr Informationen und Anmeldung auf www.seismograph-basel.ch.

Das Kino als Zeitmaschine

Die Geschichte des Zeitreise-Motivs ist eng mit der des Films verbunden. Schon lange bevor das Science- Fiction-Kino den Zeitreisenden als Helden entdeckte, inszenierte die Literatur Reisen in Vergangenheit oder Zukunft als Spektakel. Damit hat neben der Wissenschaft auch das Science- Fiction-Genre in Literatur und Film stark dazu beigetragen, dass Zeit und Raum als von einander abhängige Grössen aufgefasst werden

Wenn uns Erzählungen von Zeitreisen etwas lehren, dann, dass jeder Moment potenziell bedeutungsvoll ist, weil sich noch das kleinste und scheinbar nebensächlichste Ereignis als folgenschwer erweisen kann. So verändert womöglich eine Rangelei unter Teenagern ganze Leben – wie etwa in Robert Zemeckis’ unverwüstlichem Klassiker Back to the Future (1985) zu sehen, als George McFly (der Vater des Zeitreisenden Marty) sich endlich gegen den Rüpel Biff zur Wehr setzt. Ein Faustschlag macht aus George nicht nur einen selbstbewussten Mann, sondern verändert alles, was danach kommt. In der Logik von Zeitreisen gibt es keine Zufälle. Alles, was geschieht, hat eine Ursache und folgt aus dem, was davor passiert ist.

Man kann behaupten, dass Zeitmaschine und Film gleichzeitig «erfunden» wurden. 1895 führten die Gebrüder Lumière in Paris erstmals ihren Kinematographen vor. Im selben Jahr erschien mit H. G. Wells’ The Time Machine der erste moderne Zeitreise-Roman der Literaturgeschichte. Natürlich war Wells, der in diesem Jahr seinen 150. Geburtstag feiern würde, nicht der erste Schriftsteller, der seinen Helden durch die Jahrhunderte jagte ; das 19. Jahrhundert erlebte allerdings besonders viele Zeitreisende. Diese bedienten sich keiner raffinierter Maschinen und sind weniger echte Reisende denn Opfer, die meist aus nicht ganz nachvollziehbaren Gründen in jahrzehntelangen Schlaf fallen, um dann in der Zukunft zu erwachen. Louis- Sébastien Mercier liess bereits 1770 in seinem Roman Das Jahr 2440 seinen Protagonisten im Paris der Zukunft aufwachen. Auch Washington Irvings 1819 erschienene Kurzgeschichte «Rip Van Winkle» bedient sich dieses Kniffs; seine Hauptfigur kommt nach einem 20-jährigen Zauberschlaf in einem post-revolutionären, unabhängigen Amerika wieder zu sich.

H. G. Wells

H. G. Wells, der Erfinder der modernen Zeitreiseerzählung (1940).

Im Zeitraffer in die Zukunft

Vor The Time Machine waren Zeitreisen eher traumähnliche Zustände ; Vorschauen auf Dinge, die kommen. Ganz anders dann bei Wells: Sein Zeitreisender nimmt in seinem Labor auf einer von ihm selbst erbauten Maschine Platz mit dem Ziel, einen Blick in die Zukunft zu erhaschen. Markant ist hier, wie Wells die Zeitreise beschreibt. Der namenlose Protagonist drückt den Hebel seiner Maschine – und es wird allmählich dunkel, bis plötzlich die Haushälterin auftaucht. Doch sie geht nicht etwa gemächlichen Schrittes durch den Raum, sondern schiesst wie eine Rakete vorbei. Als der Zeitreisende den Hebel noch weiter nach unten drückt, beschleunigt sich alles noch viel mehr. Es tagt und dunkelt im Sekundentakt, die Mauern des Labors lösen sich auf, und als er den Hebel schliesslich loslässt, steht er mit seiner Maschine auf freiem Feld.

Was Wells in seinem Roman beschreibt, ist dem Leser des 21. Jahrhunderts, der in einer von visuellen Medien dominierten Kultur aufgewachsen ist, bestens vertraut. Das Reisen durch die Zeit wird in The Time Machine gleich einer Zeitrafferaufnahme beschrieben, wie wir sie aus dem Film kennen, und der im Sessel seiner Apparatur sitzende Zeitreisende hat frappante Ähnlichkeit mit einem Kinozuschauer, der staunend zusieht, wie die Zeit an ihm vorbeirauscht. Dieses Motiv hat der Film dankbar aufgenommen. Als Rod Taylor, der in George Pals klassischer Verfilmung des Romans von 1960 den Zeitreisenden spielt, zum ersten Mal sein Gefährt ausprobiert, trumpft der Film mit einer ganzen Serie von Zeitrafferaufnahmen auf: Eine Kerze brennt in wenigen Sekunden nieder, Blüten öffnen und schliessen sich, eine Schnecke rast über den Boden und vor dem Fenster des Labors flitzen die Passanten in Slapstickmanier vorbei.

Dass Wells zu einem Zeitpunkt, als das Kino gerade erst erfunden wurde, in seinem Roman schon ganz selbstverständlich Bilder verwendete, welche die Möglichkeiten des Films aufnehmen, ist kein Zufall. Wells war wie viele seiner Zeitgenossen von den zahlreichen optischen Erfindungen, aber auch von den unterschiedlichsten Arten von Zeitmessern, die Ende des 19. Jahrhunderts aufkamen, fasziniert. Vor allem aber ist das Kino ein inhärent zeitliches Medium; anders als Literatur oder Malerei gibt es den Zuschauern die Geschwindigkeit der Rezeption vor. Wir sind dem Strom der Bilder ausgeliefert und können sein Tempo nicht beeinflussen. Für Theater oder Musik gilt dasselbe, im Gegensatz zu diesen kann der Film jedoch mittels Zeitlupe, Zeitraffer und Montage Zeit nach Belieben dehnen, stauchen oder umkehren. Letzteres entdeckten die Gebrüder Lumière schon früh, als sie ihren Kurzfilm Démolition d’un mur von 1896 bei einer Vorführung irrtümlicherweise verkehrt herum in den Projektor einlegten. Nun brach die titelgebende Mauer zum Erstaunen des Publikums nicht etwa ein, sondern setzte sich wie von Geisterhand wieder zusammen. Das Kino war damit von Anfang an eine Zeitmaschine.

Erzählbare Zeit

Die Wahrnehmung von Zeit ist, wie jeder aus eigener Erfahrung weiss, etwas Relatives. Für eine Uhr ist Zeit bloss eine physikalische Grösse, die exakt gemessen werden kann, und eine Zeitspanne von fünf Minuten dauert immer gleich lang. Die individuelle Wahrnehmung kann dagegen sehr stark variieren; je nachdem, ob man sich in einer angenehmen oder misslichen Situation befindet, können fünf Minuten im Flug vergehen oder einem endlos lang vorkommen. Zeit präsentiert sich uns eben nie als «reine», sondern immer als erlebte und damit auch als erzählbare Zeit. Die Zeit ist immer untrennbar mit der Situation verknüpft, in der wir uns jeweils befinden.

Auch der Film kann uns keine reine Zeit präsentieren, sondern muss sie in Situationen und damit ins Bildliche, in Bewegung übersetzen. Wells’ vorbeisausende Haushälterin, die rasende Schnecke in der Verfilmung oder die wiederauferstehende Mauer – sie alle stellen das Vergehen respektive das Umkehren von Zeit als Bewegung im Raum dar.

Harold Lloyd

Zeit ist im Kino immer erzählte Zeit – Harold Lloyd in Safety Last! (1923).

Albert Einsteins epochale Einsicht, dass Raum und Zeit physikalisch ein Kontinuum bilden, scheint in Wells’ Roman in doppelter Weise vorweggenommen. Nicht nur inszeniert er die Zeitreise als kinetisches und cineastisches Spektakel und somit als räumliches Phänomen, sondern auch seine rudimentäre Erklärung zur Funktionsweise der Zeitmaschine liest sich wie Einstein avant la lettre. Jedes Objekt, so erklärt der Zeitreisende einer skeptischen Abendgesellschaft, besitze nicht bloss drei Dimensionen, wie es die klassische Geometrie lehrt, sondern noch eine vierte – die Zeit. Ein Gegenstand existiert sowohl im Raum als auch in der Zeit; die beiden Grössen bilden zusammen eine vierdimensionale Geometrie. Und genau so, wie man sich in den drei Dimensionen des Raumes bewegen kann, müsste dies auch in der vierten möglich sein.

Was Wells hier vollführt, ist freilich ein rhetorischer Taschenspielertrick, der nur sehr oberflächlich der Allgemeinen Relativitätstheorie entspricht. Nichtsdestotrotz kommt auch hier die Einsicht zum Ausdruck, dass Raum und Zeit eng miteinander verwoben sind. Ganz im Sinne der Raum-Zeit-Analogie, derer sich Wells bedient, beschreibt er die Reise durch die Zeit denn auch als Fahrt, die sich für seinen Protagonisten mitunter wie ein Ritt auf einer Achterbahn anfühlt. Da ist es nur konsequent, dass der britische Filmpionier Robert W. Paul nach Erscheinen von Wells’ Roman die Konstruktion eines Zeitmaschinen-Simulators als Jahrmarktsattraktion vorschlug. Das Gerät, welches zum Patent angemeldet, aber nie gebaut wurde, war als eine Kombination aus Filmprojektor, Diorama und Karussell konzipiert. Die Besucher sollten auf einer beweglichen Plattform Platz nehmen und mittels Filmprojektionen den Eindruck gewinnen, durch die Zeit zu reisen.

Passive Zeitreisende

Angesichts der vielfältigen Beziehungen zwischen dem Medium Film und dem Motiv der Zeitreise mag es erstaunen, dass die Anzahl der Zeitreisefilme in den ersten 50 Jahren der Filmgeschichte gering war. Ein Grund dafür ist möglicherweise, dass die wirklich interessanten Plots zu diesem Thema erst noch erfunden werden mussten. Lange verhielt sich ein Grossteil der literarischen Zeitreisenden selbst wie Kinozuschauer: Sie schauten sich die fernen Zeitalter – zu Beginn fast immer die Zukunft – an, traten selbst aber nicht gross in Aktion. Vor allem aber fehlte zu Beginn jene Komponente, die uns aus heutiger Sicht wohl am meisten an Zeitreisen fasziniert – die Verbindung zur Gegenwart. So muss Wells’ Zeitreisender zwar gegen die schrecklichen Morlocks kämpfen, die im Jahr 802 701 unter der Erde leben. Diese Auseinandersetzung hat für seine Gegenwart aber keinerlei Konsequenzen. Wirklich spannend wurde es erst, als die Autoren die Folgen von Zeitreisen – vor allem von solchen in die Vergangenheit – zu erkunden begannen. Daraus resultierten die aberwitzigsten Komplikationen. Was bedeutet es beispielsweise, wenn man in die Vergangenheit reist und seinen Grossvater tötet, noch bevor er die eigene Grossmutter kennenlernen kann? Das sogenannte Grossvaterparadoxon steht stellvertretend für all die widersinnigen Konstellationen, die entstehen können, wenn man die Zeitläufte manipuliert. Denn egal, wie man es auch dreht – erzählerische und kausale Logik klaffen am Ende immer auseinander. Obwohl etwas aus der Handlung heraus problemlos nachvollziehbar erscheint, rebelliert unser Verstand dagegen, dass es möglich sein soll, die eigene Zeugung zu verhindern. Denn wie kann man etwas verhindern, das doch die Voraussetzung dafür war, dass man überhaupt lebt und in die Vergangenheit reisen konnte ?

By His Bootstraps

Heinlein veröffentlichte «By His Bootstraps» ursprünglich unter dem Pseudonym Anson MacDonald.

Das Zeitreise-Paradoxon entsteht, weil der Zeitreisende über eine Fähigkeit verfügt, die normalerweise erzählenden Medien vorbehalten ist: das freie Verfügen über die Zeit. Das beliebige Hin- und Herspringen in der Chronologie ist ein Vorrecht der Fiktion. Doch mithilfe einer Zeitmaschine kann jeder Protagonist Herr über die eigene Geschichte werden und so sein Schicksal verändern. Ereignisse müssen nicht mehr chronologisch ablaufen ; sie werden manipulierbar. Die Figuren werden so mitunter zu Autoren ihrer eigenen Biografie. Entgegen dem, was man erwarten würde, erweisen sich Zeitreise-Plots oft als erstaunlich deterministisch und in sich abgeschlossen. Nicht selten eröffnet die Zeitmaschine nur scheinbar die Möglichkeit, die Geschichte beliebig zu verändern; in Wirklichkeit muss der Zeitreisende vielmehr erkennen, dass er nur tun kann, was ihm schon immer vorherbestimmt war, denn die Gegenwart existiert nur deshalb, weil er durch die Zeit gereist ist.

Zeuge des eigenen Todes

Der US-amerikanische Science-Fiction-Autor Robert A. Heinlein hat diese Form der Zeitreise-Erzählung schon früh perfektioniert. In «By His Bootstraps» von 1941 gerät der Protagonist mit zwei zukünftigen Versionen seiner selbst – die er zunächst nicht als solche erkennt – in Konflikt, nur um am Ende festzustellen, dass alle seine Handlungen letztlich die Voraussetzung dafür waren, dass diese Alter Egos überhaupt entstehen konnten. Ab den 1960er-Jahren ist diese Grundkonstellation dann auch im Kino in zahlreichen Variationen anzutreffen. Ein frühes Beispiel hierfür ist La jetée (1962) des französischen Essay-Filmers Chris Marker, später die Vorlage für Terry Gilliams 12 Monkeys (1995). Der Kurzfilm, der eigentlich gar kein Film, sondern – bis auf eine kurze Ausnahme – eine Abfolge von Schwarz-Weiss-Fotografien ist, erzählt die Geschichte eines Mannes, der von einer Kindheitserinnerung verfolgt wird: Er sieht immer wieder vor dem inneren Auge eine Frau am Flughafen. Dieser Mann wird aus einer dystopischen Zukunft in die Vergangenheit geschickt, wo er prompt diese Frau trifft und sich in sie verliebt. Doch ist dieser Liebe kein Glück beschieden; Agenten aus der Zukunft machen Jagd auf den Mann und bringen ihn schliesslich am Flughafen in Begleitung der Frau zur Strecke. Es ist der Moment, an den sich der Mann immer wieder erinnert hat. Er erkennt im Sterben, dass sich dieses Bild deshalb so stark in sein Gedächtnis eingebrannt hat, weil er als Kind seinen eigenen Tod beobachtet hat.

La jetée

Zeuge des eigenen Todes: Chris Markers La jetée.

Anders bei der Zeitreise in Back to the Future: Marty McFly erlebt nicht den Moment seines Todes, sondern vermasselt vielmehr beinahe die Voraussetzung für seine eigene Zeugung. Durch eine Verkettung unglücklicher Ereignisse wird er ins Jahr 1955 zurückkatapultiert, wo er versehentlich das Kennenlernen seiner Eltern vereitelt. Schlimmer noch: Seine Mutter ist von dem seltsamen Jungen in violetten Unterhosen mit Calvin-Klein-Aufdruck so fasziniert, dass sie Martys Vater George keinerlei Aufmerksamkeit schenkt. Die Situation ist, wie Marty bald realisiert, existenzbedrohend, denn wenn sich seine Eltern nicht ineinander verlieben, kann er nie gezeugt werden. Einmal mehr wird deutlich, dass Geschichte kein Gebastel verträgt: Marty muss alles daransetzen, dass alles wieder so wird, wie es schon immer war. Was ihm – mit kleinen Abweichungen – letztlich auch gelingt.

Terminator und Erlöser

Als sein eigener Geburtshelfer fungiert auch in The Terminator (1984) der im Film nie wirklich in Erscheinung tretende John Connor, der in der Zukunft den Aufstand der Menschen gegen mörderische Maschinen anführt. John schickt seinen Freund Kyle Reese in die Vergangenheit, um seine Mutter Sarah vor dem Angriff der Maschinen zu beschützen. In der Hitze des Gefechts kommen sich die beiden schnell näher – mit dem Ergebnis, dass Sarah schwanger wird. Was Kyle zu Beginn nicht weiss, ist, dass John von Anfang an klar war, was er in Gang setzen würde. Wie Marty McFly arrangiert auch er seine eigene Zeugung. Dass auch Regisseur James Cameron genau wusste, was er tat, als er gemeinsam mit der Produzentin Gale Anne Hurd das Drehbuch für den Film schrieb, offenbart ein cleveres Wortspiel: Johns Initialen ‹J. C.› können sowohl für ‹John Connor› wie auch für ‹Jesus Christus› oder ‹James Cameron› stehen. Diese Gleichsetzung von Messias und Regisseur ist mehr als ein grössenwahnsinniger Scherz. Zum einen ist der John Connor aus der Zukunft tatsächlich der Erlöser der Menschheit, der sich indirekt – zwar nicht mithilfe des Heiligen Geistes, sondern des sehr viel profaneren Kyle Reese – selbst zeugt. Zum anderen inszeniert John wie der Regisseur James Cameron eine Geschichte – nämlich die Geschichte seiner Zeugung –, ohne dabei je selbst im Bild zu sein.

Terminator 2: Judgement Day

Der Terminator erschafft und zerstört sich selbst.

Im Sequel Terminator 2: Judgment Day (1991) spinnt Cameron diese Konstellation konsequent weiter: Wie sich herausstellt, hat sich nicht nur John Connor selbst erschaffen. Auch der Terminator, den die Maschinen im ersten Teil in die Vergangenheit geschickt haben, um Sarah Connor zu töten, ist in einem Akt der Autopoiesis entstanden. Erst die Überreste vom ersten Terminator haben nämlich den Bau des Supercomputers Skynet ermöglicht, der in der Zukunft der Menschheit den Krieg erklären wird. Gut und Böse, Messias und Satan sind beide ihre eigenen Schöpfer. Das ist einmal mehr hochgradig widersinnig und in seiner eigenen Logik dennoch zugleich absolut schlüssig. Die Filme wuchern hier ganz bewusst mit mythologischen Pfunden und zielen auf eine quasi-religiöse Überhöhung ab. So ist es auch nur folgerichtig, dass der Terminator am Ende des Sequels seine eigene Zerstörung anordnet und damit die Zeitschlaufe endgültig löst. So, wie sich der Terminator selbst erschaffen hat, muss er sich auch wieder selbst vernichten (lassen).

Die Welt als Innenraum des Individuums

Die konsequenteste Verdichtung dieser intertemporalen Selbstzeugung stammt einmal mehr von Robert Heinlein. 17 Jahre nach «By His Bootstraps» setzte er in der Kurzgeschichte «– All You Zombies –« (1959) – unlängst als Predestination mit Ethan Hawke verfilmt – noch einmal einen drauf. Dank Zeitreisen und Geschlechtsumwandlung zeugt sich die Hauptfigur hier nun wirklich selbst – notabene mit sich selbst. Das Subjekt ist sich bei Heinlein selbst genug; es braucht kein Gegenüber mehr, um sich in die Welt zu setzen.

Predestination

Filmische Selbszeugung in Predestination.

Der Raum der Geschichte wird zum Innenraum der Hauptfigur, das Universum zur Echokammer des Ichs. All die Bewegungen, welche die Zeitreise inszeniert – die rennende Schnecke der Time-Machine-Verfilmung, der mit einem Fluxkompensator gepimpte DeLorean von Marty McFly, die Hochgeschwindigkeitsaction von James Cameron – können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Zeitreise letztlich oft nichts anderes ist als ein sehr aufwendiges «Treten auf der Stelle».

Besonders deutlich tritt dies in Christopher Nolans rührseligem Weltraum-Epos Interstellar (2014) zutage. Weil eine weltweite Dürre die Menschheit bedroht, macht sich der von Matthew McConaughey dargestellte Astronaut Cooper mit einer NASA-Expedition auf ins All. Durch ein Wurmloch, das unbekannte Kräfte in der Nähe des Saturns entstehen liessen, fliegen er und seine Crew in ein anderes Sonnensystem, um auszukundschaften, ob sich dessen Planeten als Kolonien eignen. Nach verschiedenen Strapazen lässt sich Cooper in ein Schwarzes Loch fallen, das sich als fünfdimensionaler Raum entpuppt, von dem aus er zu beliebigen Zeitpunkten in das Kinderzimmer seiner Tochter Murphy blicken kann. Von hier aus kann er über Zeit und Raum hinweg Informationen übermitteln, die es Murphy ermöglichen, die alles entscheidende physikalische Gleichung zu lösen, welche das Überleben der Menschheit sicherstellt (was es mit dieser Gleichung genau auf sich hat, wird – wie manches andere in Interstellar – allerdings nicht ganz klar). Dank einer plötzlichen Eingebung erkennt er zudem, wer für die intergalaktische Bibliothek und das Wurmloch verantwortlich ist: Es ist die Menschheit der Zukunft, die so weit entwickelt ist, dass sie die Vergangenheit manipulieren kann. Wir haben es hier also nicht mit einer Zeitreise im strengen Sinn zu tun, sondern mit einer Art intertemporaler Kommunikation, die aber ebenfalls zu einer Selbstzeugung führt. So wie sich John Conner indirekt selbst in die Welt setzt, schaffen Cooper und seine Tochter die Voraussetzung für das Fortbestehen der Menschheit, die ihrerseits wieder in die Vergangenheit eingreifen wird, um ihre eigene Entstehung zu gewährleisten.

Interstellar

Die aussertemporale Bibliothek von Interstellar.

In Interstellar zeigt sich besonders deutlich, wie selbstbezogen diese Form des Weltentwurfs ist. Cooper muss in das Schwarze Loch fallen, um seine Bestimmung zu erfüllen. Obwohl das nie explizit gesagt wird, deutet doch alles darauf hin, dass der ausserhalb von Raum und Zeit stehende Ort, von dem aus Cooper mit seiner Tochter kommunizieren kann, einzig für ihn geschaffen wurde. Jeder andere Astronaut wäre in dem Schwarzen Loch wohl einfach erdrückt worden. Obwohl Nolan und sein Team nicht müde wurden zu betonen, wie realistisch ihr Film sei, zeigt Interstellar keineswegs einen von physikalischen Gesetzen beherrschten Kosmos, sondern ein solipsistisches Universum, das ganz auf Cooper zugeschnitten ist und komplett von ihm abhängt.

Cooper legt riesige Distanzen zurück; er bewegt sich in den unendlichen Weiten des (Welt-) Raums weiter als je ein Mensch zuvor – und kommt am Ende doch nur bei sich zu Hause an. Der Zeitreisende – und damit wären auch wir wieder ganz am Anfang, nämlich bei Wells – ist sein eigener Kosmos und die ganze übrige Welt nur ein Film, der vor seinen Augen abläuft.

Erschienen in archithese 4/2016.

ZfF #11

Spät kommt sie, aber sie kommt. Rechtzeitig vor der GFF-Jahrestagung in Münster sollte dieser Tage die neue Ausgabe der Zeitschrift für Fantastikforschung bei den Abonnenten eintrudeln. Eigentlich hätte sie schon vor mehreren Monaten erscheinen sollen, aus verschiedenen Gründen hat sich die ganze Sache aber leider verzögert.

Neben rund 60 Seiten mit Rezensionen aktueller wissenschaftlicher Literatur bietet die Ausgabe viel Material für alle, die am SF-Kino interessiert sind. Joerg Hartmann leistet in seinem Artikel «‹An absolutely fascinating period piece …›» Grundlagenforschung. Hartmann ist im Rahmen seines Forschungsprojekts, in dem es eigentlich um die Metapher des Raumflugs geht, über Anton Kutters Kurzfilm Weltraumschiff 1 startet – Eine technische Fantasie aus dem Jahr 1936 gestolpert. Kutter war nicht nur Filmemacher, der nach ersten Erfolgen unter den Nazis in Ungnade fiel, sondern auch ein begeisterter Hobby-Astronom. Sein Film (auf YouTube verfügbar, s. unten) ist ein aus heutiger Sicht seltsamer Hybrid aus Fiktion- und Nichtfiktion mit durchaus sehenswerten Spezialeffekten. Über diesen halb vergessenen Film war bislang wenig Gesichertes bekannt; Hartmann hat sich in Archive begeben sowie Kutters Sohn Adrian ausfindig gemacht und kann nun erstmals die Entstehung dieses filmhistorischen Kuriosums dokumentieren.

Szilvia Gellai widmet sich in ihrem Artikel ebenfalls dem deutschen SF-Kino und zwar Rainer Werner Fassbinders Welt am Draht von 1973Fassbinders Verfilmung von Daniel F. Galouyes Roman Simulacron-3 aus dem Jahr 1964 ist zwar deutlich weniger obskur als Weltraumschiff 1 startet, da der Film aber lange nicht greifbar war, umwehte in während Jahren ein Hauch des Legendären. Welt am Draht ist eine Art Matrix avant la lettre und spielt in einer Welt, in der eine perfekte Computersimulation existiert, deren ‹Bewohner› nicht wissen, dass sie bloss Programme sind. Natürlich stellt sich je länger je mehr die Frage, ob denn die vermeintliche «Basiswelt» nicht ihrerseits ebenfalls eine Simulation ist. Gellai rückt den Moment des Conceptula Breakthrough, also die schlagartige Einsicht, dass die Welt ganz anders beschaffen ist als bisher gedacht, ins Zentrum ihrer Überlegungen und arbeitet zahlreiche Parallelen zwischen Fassbinders Film und Sigmund Freuds tiefenpsychologischem Modell heraus.

Welt am Draht

Virtual Reality im Jahr 1973

 

TitelblattAls ich vor gut zehn Jahren meine Dissertation Die Konstitution des Wunderbaren schrieb, konnte ich in der Einleitung noch guten Gewissens festhalten, dass kaum wissenschaftliche Studien zum SF-Fandom existieren würden. Das hat sich mittlerweile drastisch geändert, die Fan Studies gehören seit einigen Jahren zu den boomenden Feldern innerhalb der Fantastikforschung. Matthias Völckers Beitrag ist hierfür ein Beispiel. Völcker präsentiert in seinem Artikel «‹Du bist einfach nur ein absoluter Freak›» die Ergebnisse einer empirischen Untersuchung, in deren Rahmen er 25 Interviews mit Star-Wars-Fans im Alter von sieben bis 46 Jahren geführt hat. Obwohl sich die interviewten Fans in Alter, Geschlecht und Interessen – einige der jüngeren Fans haben die Star-Wars-Filme noch gar nicht gesehen – unterscheiden, gibt es auch zahlreiche Gemeinsamkeiten. So beschreiben alle Interviewten eine Art Initiationserlebnis, das sie zum Fan machte; für alle ist Star Wars ein identitätsstiftender Gegenstand, der Teil ihres eigenen Selbstverständnisses ist.

AuroraIn meinem eigenen Beitrag beschäftige ich mich für einmal nicht mit Film. Vielmehr widme ich Aurora, dem jüngsten Roman des von mir hoch geschätzten Kim Stanley Robinson. In Aurora, der in SF-Kreisen für einigen Wirbel gesorgt hat, erteilt Robinson der Idee, dass der Mensch in absehbarer Zeit Planeten ausserhalb des Sonnensystems besiedeln könnte, eine deutliche Absage, was für manchen eingefleischten SF-Fan schon fast an ein Sakrileg grenzt.. Was mich in meinem Review Essay aber fast mehr interessiert, ist die Erzählkonstellation des Romans, denn als Erzähler fungiert in Aurora das Raumschiff, mit dem die Menschen zum titelgebenden Mond Aurora unterwegs sind. Ergänzt werden meine Überlegungen durch ein Interview mit Robinson, der sich wie immer als äusserst reflektierter Zeitgenosse erweist und über die teilweise heftigen Reaktionen keineswegs überrascht war: «Ich hätte etwas falsch gemacht, wenn es nicht zu entsprechenden Reaktionen gekommen wäre» (S. 88).

Das Inhaltsverzeichnis zum Download.

Foolproof and Incapable of Error

Die Slides meines Vortrags “Foolproof and Incapable of Error” Why Do Filmic Robots and AIs Always Go Bad?, den ich gestern an der interdisziplinären Tagung Wo/Man, Mind, Machine in Berlin hielt, sind nun online verfügbar.

Leider hat es mit der Aufnahme meines Kommentars nicht geklappt, wodurch der Film meinen Vortrag nur unvollständig wiedergibt. Irgendwann muss ich die Aufnahmefunktion von Keynote besser in den Griff kriegen.

Vortrag

Simon in Action (Bild von lapsimont)

Update: Siehe auch den Blogeintrag von lapsimont.