Tagung «Utopia and Reality»

Im Rahmen unseres Forschungsprojekts Alternative Weltentwürfe organisieren Andrea Reiter und ich diesen September die Tagung Utopia and Reality. Die Veranstaltung, die vom 7.–9. September an der Universität Zürich stattfindet, verbindet mit der Utopie und dem Dokumentarfilm zwei Themen, die vorderhand weit auseinanderliegen. Wie wir aber an der Veranstaltung – und natürlich auch in unserer eigenen Forschung – zeigen werden, gibt es hier zahlreiche Anknüpfungspunkte (ich selbst vertrete ja die Ansicht, dass klassische – positive – Utopien grundsätzlich nur im nichtfiktionalen Film möglich sind).

Die (englischsprachige) Tagung ist klein gehalten, weshalb wir auch von einem Workshop sprechen. Nichtsdestotrotz haben wir ein sehr hochkarätiges Programm zusammengestellt; besonders stolz sind wir auf unsere drei Keynote-Speaker, die die Crème de la Crème der Utopie- resp. Dokumentarfilmforschung darstellen. Mit Lyman Tower Sargent haben wir den grand old man der Utopian Studies als Vortragenden gewinnen können, und Dina Iordanova und Jane Gaines sind ihrerseits Koryphäen auf dem Gebiet des Dokumentarfilms. Aber auch die übrigen Vorträge versprechen, interessant zu werden. Thematisch schlagen wir einen weiten Bogen; es werden nicht nur klassische Bereiche der Utopie- und Dokumentarfilmforschung angeschnitten, sondern z.B. auch Fragen der Stadtplanung und des Videoaktivismus.

Im Folgenden das Tagungsprogramm. Das Booklet mit den Abstracts der einzelnen Vorträge kann hier heruntergeladen werden. Obwohl es sich um eine kleine Veranstaltung handelt, steht sie Aussenstehenden offen. Interessierte melden sich bitte unter conference@utopia2016.ch an.Das Titelblatt

 

Programm

Thursday, September 8

9.30 Opening and Introduction
MA Andrea Reiter and Dr. Simon Spiegel, University of Zurich

10.15 Keynote 1: Utopia and Everyday Life. Prof. Lyman Tower Sargent, University of Missouri-St. Louis

11.00 Coffee break

11.30 Anarchist Democracy between Fact and Fiction. Dr. Peter Seyferth, Bavarian School for Public Policy

12.15 Lunch

13.30 City Symphonies and Manifestos as Utopian Documentaries. Prof. Alfredo Brillembourg and Daniel Schwartz, Urban-Think Tank, ETH Zürich

14.15 Europe as Guarantor for Freedom and Land of Plenty Thomas Tode, Independent Scholar

15.00 Coffee break

15.30 Keynote 2: The Documentary Film as Utopian Forum. Prof. Dina Iordanova, University of St Andrews

18.30 Presentation of early editions of Thomas More’s Utopia at the Zentralbibliothek

Friday, September 9

9.30 Keynote 3: Documentary Dreams of Activism. Prof. Jane M. Gaines, Columbia University

10.15 Coffee break

10.45 Striving towards Utopia. Dr. Lars Weckbecker, Zayed University

11.30 Utopia and the Future. Dr. Alan Marshall, Mahidol University

12.15 Lunch

13.30 Video Activism 2.0 and Its Networked Utopias. Prof. Dr. Britta Hartmann, Bonn University; Prof. Dr. Jens Eder, University of Mannheim; Dr. Chris Tedjasukmana, Free University of Berlin

14.30 Utopian Concepts in Vertov’s Man With a Movie Camera. Dr. Susanna Layh, University of Augsburg

15.30 Workshop close

Publikationen

Wie es der Zufall resp. die nicht immer ganz durchschaubaren Regeln des akademischen Publizierens wollen, sind in den vergangenen Wochen zwei Texte von mir erschienen, die zusammen genommen mein Forschungsprojekt ziemlich gut abstecken.

«Auf der Suche nach dem utopischen Film» ist mein Beitrag zu den Proceedings der dritten Jahrestagung der Gesellschaft für Fantastikforschung (GfF), die 2012 in Zürich stattfand. In dem Artikel gehe ich der Frage nach, welche Form die klassische Utopie im Film annehmen könnte. Dass der Spielfilm für positive – eutopische – Entwürfe nicht geeignet ist, ist hinlänglich bekannt (es gibt keinen Konflikt und somit keine Handlung, die Figuren sind stereotyp, es geschieht nichts). Als Alternative plädiere ich in dem Text dafür, nichtfiktionale Filme zu untersuchen – also Dokumentarfilme, Propagandafilme und was es da sonst noch alles gibt. Als konkretes Beispiel für einen Film, der so ziemlich mit dem gesamten Arsenal klassischer utopischer Topoi aufwartet, analysiere ich Peter Josephs Low-Budget-Film Zeitgeist: Addendum, in dem das Venus Project als Ausweg aus unserer aktuellen Misere propagiert wird.

«Authentische Wunschträume. Einige Überlegungen zur Utopie im nichtfiktionalen Film» ist mein Beitrag zu den Proceedings der GfF-Tagung von 2013 in Wetzlar. Der Text ist zwar bereits Ende 2013 erschienen, stellt aber eigentlich die Fortsetzung von «Auf der Suche nach dem utopischen Film» dar. Darin gehe ich vor allem der Frage nach, wie sich utopische Filme aus der Sicht der Dokumentarfilmtheorie fassen lassen. Auf den ersten Blick haben wir es hier mit einem fundamentalen Widerspruch zu tun: Das Wesen des Dokumentarfilms ist es – vermeintlich – ja gerade, die Ereignisse vor der Kamera unverfälscht festzuhalten. Wie verhält sich das mit der Utopie, die ihrerseits von einem Staatswesen erzählt, das es (noch) nicht gibt? Ausführlicheres dazu hier.

Das theoretische Fundaments meines Projekts wäre somit gelegt, nun müssen nur noch die passenden Filme rangeschafft werden …

 

Bibliographische Angaben:

Spiegel, Simon: „Authentische Wunschträume. Einige Überlegungen zur Utopie im nichtfiktionalen Film“. In: Komparatistik Online. Nr. 1, 2013, 188–199.

Spiegel, Simon: „Auf der Suche nach dem utopischen Film“. In: Lötscher, Christiane/Schrackmann, Petra/Tomowiak, Ingrid et al. (Hgg.): Übergänge und Entgrenzungen in der Fantastik. Berlin 2014, 421–435.

«Authentische Wunschträume» kann als PDF runtergeladen werden. Leider verbietet der LIT-Verlag seinen Autoren ausdrücklich, ihre Artikel online zu veröffentlichen, weshalb ich Interessierte an die Buchhandlung oder Universitätsbibliothek ihres Vertrauens verweisen muss.

 

 

Authentische Wunschträume

In der Zeitschrift Komparatistik Online ist dieser Tage ein Teil der Proceedings der letzten Jahrestagung der Gesellschaft für Fantastikforschung erschienen — unter anderem darin enthalten ist ein Artikel von mir zur Utopie im nicht-fiktionalen Film.

Das Timing ist nicht ganz optimal, da ich mich in dem Artikel u.a. auf einen Text beziehe, den ich für die Proceedings der 2012er Jahrestagung geschrieben habe, welche voraussichtlich erst im Herbst erscheinen werden.1 Ich denke aber, dass der Artikel auch so verständlich sein sollte. Kurz zum Inhalt: Grundthese meines Forschungsprojekts ist, dass es im nicht-fiktionalen Film (vulgo: Dokumentarfilm) zahlreiche Beispiele für utopische Entwürfe gibt, die dem von Thomas Morus in Utopia etablierten Modell weitgehend entsprechen. Ein Beispiel hierfür, das ich im besagten noch nicht veröffentlichten Artikel analysiere, ist Zeitgeist: Addendum von Peter Joseph, ein Low-Budget-Film (auf YouTube frei erhältlich), der neben viel verschwörungstheoretischem Geraune mit dem Venus Project auch einen Gegenentwurf präsentiert.2 Das Venus Project wiederum ist zwar durchaus ernst gemeint, präsentiert sich aber als einzige Ansammlung utopischer Topoi. Sei es Geldlosigkeit, zentrale Verteilung der Güter, Erziehung zum besseren Menschen, Abschaffung des politischen Prozesses – das Venus Project bietet die volle Packung.3

Während ich in dem nun später erscheinenden ersten Artikel ganz grundlegend dafür plädiere, den Dokumentarfilme für die Utopieforschung zu erschliessen, konzentriere ich mich in dem in Komparatistik Online erschienenen Aufsatz auf die Frage, wie sich ein Film wie Zeitgeist: Addendum aus Sicht der Dokumentarfilm-Theorie präsentiert. Denn auf den ersten Blick erscheint ein solcher utopischer Film als Paradoxon: Ausgerechnet im Dokumentarfilm, der die Wirklichkeit abbildet, soll es utopische Entwürfe geben, zu deren wesentlichen Eigenschaften es gehört, dass sie (noch) nicht existieren. Bei genauerer Betrachtung ist die Sache freilich gar nicht so widersprüchlich. Dass Dokumentarfilme die Wirklichkeit keineswegs einfach abbilden, dass das Verhältnis zwischen Realität und Film einiges komplexer ist, dürfte jedem klar sein, der sich ein bisschen in diesem Bereich auskennt. Das macht die Sache aber nicht einfacher, und die Filmtheorie müht sich schon seit geraumer Zeit mit der Frage ab, wie das Verhältnis zwischen Dokumentarfilm und Wirklichkeit am besten zu fassen ist. Persönlich scheint mir der semiopragmatische Ansatz von Roger Odin hier am sinnvollsten. Sehr vereinfacht gesagt geht dieser davon aus, dass ein Film vom Rezipienten immer auf verschiedene Arten gelesen werden kann, und dass die unterschiedlichen Lektüre-Modi sowohl durch formale Merkmale im Film – z.B. Kameraführung, Einsatz von Off-Kommentar, Montage – wie auch durch den Kontext, in dem der Film rezipiert wird, nahegelegt werden. Wenn ein Film z.B. als Dokumentarfilm beworben wird, liegt es nahe, dass ich als Zuschauer den dokumentarisierenden Modus wähle. Es stet mir aber immer frei, entgegen der Vorgaben, die ein Film resp. der Kontext macht, einen anderen Lektüremodus zu wählen.

Entwurf von Jacque Fresco.

vlcsnap-2014-05-19-22h31m29s68vlcsnap-2014-05-19-22h31m23s11Die Zukunft, wie man sie sich beim Venus Project vorstellt.

Der dokumentarisierende Modus unterscheidet sich vom  fiktionalisierenden unter anderem dadurch, dass ich als Zuschauer immer davon ausgehe, dass der Filmemacher Aussagen zur Wirklichkeit macht. Das heisst nun nicht, dass die Bilder und Töne im Film tatsächlich reale Ereignisse wiedergeben müssen, aber dass ich seinen Inhalt in Bezug zur Realität setze, dass der Film als Ganzer dem Wahrheitsgebot unterliegt. Zugespitzt formuliert: Ein Dokumentarfilm kann lügen, ein Spielfilm nicht. Der Filmtheoriker Carl Plantinga, der diesbezüglich ähnlich argumentiert wie Odin, spricht von einer assertorischen Haltung.

Was geschieht nun, wenn ein Dokumentarfilm Dinge zeigt, die es offensichtlich nicht gibt, wenn zum Beispiel in Zeitgeist: Addendum die computeranimierten Entwürfe von Venus-Project-Guru Jacque Fresco zu sehen sind?4 Verliert der Film dann seinen dokumentarischen Status? Ich bin der Ansicht, dass das nicht der Fall ist, denn an der grundsätzlichen Haltung des Films ändert sich nichts. Folgendes Zitat aus dem Artikel bringt den Sachverhalt – hoffentlich – auf den Punkt:

Die in Josephs Film gezeigten futuristischen Bauten und Gefährte sind zweifellos (noch) nicht real, im Kontext des Films verändern sie aber ihren Status und erscheinen nicht als völlig fiktive Elemente. Vielmehr ist die Argumentation des Films gerade darauf ausgerichtet, das Gezeigte als plausibel und wünschenswert erscheinen zu lassen. Mittels dieser Strategie verliert das Fiktive seine ursprüngliche Nicht-Wirklichkeit und erhält einen quasi-assertorischen Status. Diesen Vorgang, das Quasi-real-Erscheinen-lassen fiktiver Elemente, bezeichne ich als Faktualisierung (195 f.)

Faktualisierung führt also dazu, dass fiktive Elemente in einem Dokumentarfilm ihren nicht-realen Status zumindest teilweise verlieren. Das heisst nun keineswegs, dass Frescos Entwürfe damit automatisch plausibel werden. Aber auch ein Skeptiker, der das Venus Project für Unsinn hält, wird wohl zugestehen, dass dessen futuristische Städte einen anderen Status haben als die Metropolen eines Science-Fiction-Films. Ein Film wie Blade Runner erhebt keinen Anspruch darauf, eine ernsthafte Prognose zur Stadtentwicklung in den USA abzugeben. Fresco versteht seine Entwürfe dagegen ausdrücklich als ernsthafte Vorschläge, über welche man diskutieren und die man schliesslich auch umsetzen soll.

Mit dem Begriff der Faktualisierung, der übrigens von meiner Projektpartnerin Andrea Reiter stammt, scheint mir ein für mein Projekt ganz wesentliches Element benannt. Momentan haben wir dieses Konzept noch nicht detailliert ausgearbeitet, sondern nur grob skizziert. Auch mein Artikel ist nur als erster Entwurf zu verstehen, der das Phänomen des utopischen Dokumentarfilms aus filmtheoretischer Sicht umreisst. Ich bin aber zuversichtlich, dass sich der Ansatz als fruchtbar erweisen wird. Der Vorgang der Faktualisierung scheint mir dabei für viele Spielarten des Dokumentarfilms relevant, im Falle der von mir untersuchten utopischen Filme bildet er aber das zentrale Scharnier zwischen Fiktion und Faktualität.

  1. Hier die vorläufigen bibliografischen Angaben: «Auf der Suche nach dem utopischen Film». In: Christiane Lötscher, Petra Schrackmann, Ingrid Tomkowiak, Aleta-Amirée von Holzen (Hg.): Übergänge und Entgrenzungen in der Fantastik, Berlin: Lit 2014 [im Druck].[]
  2. Ursprünglich aufmerksam auf das Venus Project resp. Josephs Filme wurde ich durch einen Thread auf sf-netzwerk.de. Die Diskussion, in die sich zwischendurch auch ein Vertreter des Venus Project einschaltet, driftet zwar immer wieder ab, zeigt aber sehr schön die Probleme dieses Projekts.[]
  3. Aus Josephs Zeitgeist-Filmen ist das Zeitgeist Movement hervorgegangen, das sich ursprünglich als aktivistischer Arm des Venus Project verstanden hat. Wie es derartigen bei sektenähnlichen Vereinigungen aber oft vorkommt, haben sich die beiden Bewegungen mittlerweile überworfen und gehen seither getrennte Wege.[]
  4. Fresco, Jahrgang 1916, also genau 400 Jahre jünger als Morus’ Utopia, ist gemeinsam mit seiner Lebenspartnerin Roxanne Meadows die treibende Kraft hinter dem Venus Project. Benannt ist dieses nach seinem Namen in Venus, Kalifornine.[]