Wie immer gilt ein genereller Spoilervorbehalt.1 Für alle, die Blade Runner und Blade Runner 2049 noch nicht gesehen haben, dürften die folgenden Ausführungen aber ohnehin nicht sonderlich interessant sein.
Blade Runner ist ein Film, mit dem mich eine komplizierte Hassliebe verbindet. Im Schlusswort meiner Dissertation Die Konstitution des Wunderbaren beschreibe ich, wie der Film mein Leben verändert hat, und so übertrieben das klingen mag, ist es doch keineswegs falsch. Als ich den Film vor fast einem Vierteljahrhundert zum ersten Mal sah, hat er mich regelrecht erschlagen und mir zum ersten Mal wirklich klar gemacht, was Kino alles kann. Meine Begeisterung für das Medium Film hängt wesentlich mit Blade Runner zusammen (und mit Twin Peaks, aber das ist eine andere Geschichte).
Seither ist einiges geschehen. Ich habe den Film mittlerweile so oft gesehen und vor allem so viel über ihn gelesen, dass ich ihn kaum noch ertrage. Manche Manierismen des Films sind schlecht gealtert, und seit mich meine bessere Hälfte auf die totale Humorlosigkeit des Films aufmerksam gemacht hat, stehe ich auch seinem Pathos kritischer gegenüber.
Und nun also Blade Runner 2049. Die Kritiken sind, soweit ich es überblicke, überwiegend positiv, was mich doch etwas überrascht. Der Film ist zwar deutlich besser, als ich befürchtet habe – insbesondere die ersten 30–45 Minuten fand ich sehr gelungen –, weist in meinen Augen aber auch offensichtliche Schwächen auf. Er ist deutlich zu lang, im Plot gibt es massive Löcher und der Text, den man Jared Leto für seine Rolle als Bösewicht Wallace verpasst hat, grenzt schon fast an Körperverletzung.2
In diesem Eintrag möchte ich aber nicht den Film rezensieren, sondern einen Aspekt beleuchten, der in meinen Augen viel darüber aussagt, wie sich das populäre Kino in den vergangenen drei Jahrzehnten verändert hat.
Blade Runner ist ein Film mit einer äusserst chaotischen Produktionsgeschichte, der bei Erscheinen nur mässig Erfolg hatte und dann über die Jahre hinweg, quasi unter der Hand, allmählich zum Kultfilm wurde. Gründe dafür gibt es mehrere. Die schiere visuelle Brillanz, das grossartige Set Design, die Effekte, das Licht – all das sind sicher wichtige Faktoren. Ebenso wichtig ist aber auch, dass sich Blade Runner als äusserst fruchtbarer Boden für Interpretationen aller Art erwiesen hat. Zu kaum einem Film wurde so viel geschrieben – sowohl von Wissenschaftlern wie auch von Fans.3
Manche dieser Deutungen sind offensichtlich im Film angelegt. Dass der Film auf ganz verschiedenen Ebenen mit dem Augen-Motiv spielt, ist kein Zufall. Dass Roy Batty im Schlusskampf als Jesus-Figur erscheint, ebenfalls. Anderes, wie zum Beispiel die variierende Zahl der Replikanten, die Deckard jagen muss, ist das Ergebnis der chaotischen Produktion (und wurde deshalb im 2007 erschienenen Final Cut auch ‹korrigiert›).
Was diese Dinge alle gemeinsam haben, ist, dass sie für den eigentlichen Plot weitgehend bedeutungslos sind. Das gilt selbst für die Frage aller Fragen, die, ob Deckard selbst ein Replikant ist. Zweifellos hat es auf die Interpretation des Films Einfluss, ob dessen Hauptfigur ein Mensch oder ein Replikant ist. Ein zentrales Thema von Blade Runner ist schliesslich, was den Mensch zum Menschen macht, und wenn der Replikantenjäger selbst kein Mensch ist, wird die ganze Versuchsanordnung noch komplizierter. Auf den Plot wirkt sich die Erkenntnis, dass Deckard ein Replikant ist – wenn man sich denn dieser Interpretation anschliessen will –, aber kaum aus. Diese Einsicht ist kein Plottwist, nichts, was gespoilert werden könnte. Sie ist – wie auch diverse andere Interpretationsansätze – in erster Linie Subtext, der den Film anreichert, den Plot aber kaum tangiert.
Blade Runner 2049 funktioniert diesbezüglich ganz anders. Eines der – wenn nicht sogar das – zentralen Rätsel des Films ist, ob die von Ryan Gosling gespielt Hautpfigur K der Sohn von Deckard und Rachael ist. Aber auch über dieses Geheimnis hinaus sind die Anspielungen und Bezüge sehr viel direkter in die Handlung integriert. Die wenigsten Zuschauer von Blade Runner dürften beim ersten Schauen gemerkt haben, dass die Seriennumer einer synthetischen Schlangenhaut, die Deckard in einer Szene vorliest, nicht mit der Zahl identisch ist, die kurz im Bild zu sehen ist (wobei auch dieser ‹Fehler› im Final Cut korrigiert wurde). Wenn K im Sequel von einer anderen Figur eine Ausgabe von Nabokovs Roman Pale Fire in die Hand gedrückt kriegt, geschieht das hingegen sehr viel weniger versteckt.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Es geht mir nicht darum, was diese Dinge im Einzelnen bedeuten könnten oder ob die eine Variante nun eleganter oder besser ist als die andere, sondern darum, dass hier ganz verschiedene Arten des Erzählens sichtbar werden. Scotts Film folgt einem relativ gradlinigen Krimi- resp. Action-Plot, der mit zahlreichen – ob absichtlich gesetzten oder zufällig entstandenen – Momenten angereichert ist, die zur eingehenderen Interpretation einladen. Bei Villeneuve bilden die Twists sowie Aufforderungen zum Kombinieren und Ausknobeln dagegen einen integralen Teil des Plots.
Der Film ist diesbezüglich kein Einzelfalls, sondern typisch für das Mainstream-Kino der letzten 20 Jahre. Steven Johnson argumentiert in seinem Büchlein Everything Bad is Good for You, dass die Popkultur in den vergangenen Jahrzehnten viel komplexere Formen angenommen hat und dass heute jede Nachmittagsserie deutlich mehr von ihrem Publikum verlangt als noch in den 1950er-Jahren. Man kann sich darüber streiten, ob dieser Befund so allgemein gilt, wie Johnson behauptet, aber dass zumindest gewisse Segmente der populären Kultur heute von einem deutlich aktiveren Zuschauer ausgehen als noch vor 30 Jahren, ist wohl unbestritten. Hauptsächlich verantwortlich für diese Veränderung sind veränderte Rezeptionsgewohnheiten, die Medien wie DVD und später VoD und Online-Medien mit sich brachten.4 Aber ein Stück weit hängt diese Entwicklung wohl auch damit zusammen, dass nicht zuletzt Filme wie Blade Runner gezeigt haben, dass es Zuschauer gibt, die sich für diese Art von Deutungsakrobatik begeistern können. In gewissem Sinne steht Blade Runner 2049 damit am – sehr vorläufigen – Endpunkt einer Entwicklung, die unter anderem mit Blade Runner ihren Anfang nahm.
Update: Es gibt noch einen anderen Aspekt, in dem deutlich wird, wie sehr sich das filmische Erzählen von Blade Runner zu Blade Runner 2049 gewandelt hat. Scotts Film hatte zwar zumindest im Director’s Cut ein offenes Ende, war aber nicht auf eine Fortsetzung ausgerichtet. Der neue Film bietet bietet dagegen gleich mehrer Ansatzpunkte für ein Sequel. Nicht nur bleibt mit der Figur von Wallace der Oberbösewicht am Leben, es wird zudem reichlich spät und ohne echte erzählerische Motivation ein komplett neuer Handlungsstrang eingeführt, der sich um einen bevorstehenden Aufstand der Replikanten dreht. Dieser Subplot führt allerdings komplett ins Leere, und es deutet einiges darauf hin, als sei er primär dazu da, um die Geschichte in einem weiteren Film fortzuspinnen.5
Blade Runner 2049 bereitet aber nicht nur mögliche Fortsetzungen vor, sondern verändert darüber hinaus auch die Vergangenheit. Denn wie wir von Wallace erfahren, war es kein Zufall, dass sich Deckard und Rachael im ersten Teil kennenlernten; die ganze Liebesgeschichte zwischen den beiden war vielmehr Teil eines Plans, mit dem Replikanten-Bauer Tyrrell die Zeugung des ersten Replikanten-Babys in die Wege leitete. Dass diese Erklärung überhaupt keinen Sinn ergibt und der Handlung des ersten Films komplett zuwider läuft, sei hier nur am Rande erwähnt. Im Kontext meiner übrigen Ausführungen ist relevanter, dass Blade Runner 2049 auch mit diesem Story-Retroffiting voll im Trend liegt. Hollywood konzipiert gerade bei Grossproduktionen immer weniger einzelne Filme, sondern lieber ganze Franchises oder am besten komplette erzählerische Universen. Das Marvel Cinematic Universe ist hier das erfolgreichste Beispiel, DC versucht mit weniger Glück Ähnliches, und natürlich sind auch die jüngsten Star-Wars-Filme ein Beispiel für diesen Trend. Selbst die James-Bond-Reihe macht mit. Waren bisher alle Filme mit 007 abgeschlossene Abenteuer, die sich nur minimal aufeinander bezogen, baut Spectre eine nachträgliche Chronologie, die gegen jede Logik alle Filme mit Daniel Craigs Bond in ein erzählerisches Kontinuum zwängt.6 Das Gleiche – und ähnlich wenig überzeugend – versucht nun auch Blade Runner 2049.
- Grundsätzlich kann hier jede Pointe, jeder Twist, jede Überraschung verraten werden. Wer an Spoilerphobie leidet, sollte die Einträge zu aktuellen Filmen somit besser meiden.[↩]
- Philip-K-Dick-Koryphäe Andrew Butler hat zum Film gebloggt und seine Einschätzung deckt sich im Wesentlichen mit meiner.[↩]
- Siehe zur Bedeutung von Blade Runner auch meinen Essay für die Filmzeitschrift Frame.[↩]
- In meiner Spoiler-Kolumne für das Filmbulletin habe ich mich mehrfach mit dieser Frage beschäftigt. Siehe dazu etwa den Artikel «Eine kurze Geschichte der Spoilerphobie».[↩]
- Da Blade Runner 2049 in den USA schlecht gestartet ist, stehen die Chance für eine potenzielle Fortsetzung allerdings nicht sonderlich gut.[↩]
- Siehe dazu auch meine Rezension des Films.[↩]